Andreas Mertin: Das Paradies als Sehnsuchtsort - Eine Recherche

Ausgangsfragen

„Der Mensch ist zwar aus dem Paradies vertrieben worden, sucht aber von den Ferienparadiesen über die Einkaufsparadiese fortlaufend wiederum diese Orte. Ist es ein Geschäft mit der Sehnsucht? Woher kommt die Sehnsucht nach diesen Paradiesen? Vielleicht überhaupt nach dem Paradies?“

Mit diesen Worten begann das Schreiben der Redaktion, in dem sie mich zu einem Beitrag zum Paradies als Sehnsuchtsort einlud. Wie also steht es um die Sehnsucht des Menschen, der ja immer noch „Jenseits von Eden“ lebt, irgendwann oder vielleicht auch sofort wieder in das Paradies zurückzukehren? Natürlich: die Werbung, deren Lieblingssymbol nicht umsonst der Apfel ist, umgarnt uns wie früher die sagenhafte biblische Schlange mit dem Versprechen, jederzeit sei die Rückkehr in paradiesische Verhältnisse möglich – ganz ohne eschatologische Vorbehalte oder gar ein Jüngstes Gericht, schlicht durch Konsum. Kauf oder buch Dir Dein Paradies! Aber was ist das eigentlich – das Paradies? Offenbar ist es nicht ein Schlaraffenland (Wohlstand für alle), offenbar ist es auch nicht einfach das himmlische Jerusalem (das die Offenbarung verspricht). Was ist es aber dann? Ist es nur der regressive Wunsch, wenigstens für kurze Zeit aus allen Zwängen und Belastungen des Alltags entfliehen zu können? Das würde zwar Begriffe wie Urlaubsparadies erklären, keinesfalls aber solche wie Einkaufsparadies, die ja eher neue (Entscheidungs-) Zwänge auftun. Was also können wir uns heute unter Paradies vorstellen? Es könnte ja sein, dass das, was die biblischen Autoren etwa des 6. Jahrhunderts vor Christus in ihren beiden Paradieserzählungen geschildert haben, mit unseren heutigen Vorstellungen eines Paradieses überhaupt nicht mehr in Übereinstimmung zu bringen ist. Dass wir also nur noch ganz entfernt vom Ursprung und in einem ganz anderen Sinn das Wort „Paradies“ verwenden. Ich begebe mich also auf eine Recherche.


Recherche I: Die Bibel

Mein erster Schritt führt mich zum Wissenschaftlichen Bibellexikon im Internet (WiBiLex) und dort zum Stichwort Paradies (http://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/29971/). Was mich interessiert ist, ob wir nach Ansicht der biblischen Schriftsteller jemals im Paradies waren oder ob die Vorstellung vom Paradies immer nur theologischer Gegenentwurf zu einer Realität war, die ganz und gar nicht paradiesisch ist.

Das Paradies, so erfahre ich, bezieht sich zunächst auf die Gartenanlagen des Großkönigs. Erst die Septuaginta überträgt das dann auf den Gottesgarten bzw. den Garten Eden. „Die biblische Paradiesvorstellung knüpft an die Vorstellungen, die sich mit den Tempel- und Königsgärten im Alten Orient verbanden, an. Zugleich gehört sie in das Umfeld von Konzeptionen, mittels derer die Ambivalenz der gegenwärtigen Welt im Interesse einer gedanklichen und ethischen Lebensorientierung zugunsten räumlich oder zeitlich getrennter Gegenwelten aufgelöst wird.“  Am Anfang, so lässt sich knapp zusammenfassen, erschafft Gott den Menschen aus Ton und damit als Naturwesen, den Tieren ähnlich. Erst durch das Essen vom Paradiesbaum wird er zum Kulturwesen und muss den Garten verlassen, „denn die erworbene Kulturfähigkeit zielt auf Bewährung in einer Welt außerhalb des wundersamen Gartens“. Freilich beurteilen die biblischen Autoren, das wird mit Genesis 4 deutlich, die faktischen menschlichen Kulturleistungen außerordentlich skeptisch. Zwar schildert die biblisch überlieferte Geschichte die Entwicklung von der Natur zur Kultur, aber die fortdauernde Sehnsucht nach dem Paradies wird dann als „Das Unbehagen an der Kultur“ deutbar: „man möchte sagen, die Absicht, dass der Mensch glücklich sei, ist im Plan der ‚Schöpfung‘ nicht enthalten“ (Sigmund Freud). Dieser Zustand des menschlichen Glücks wird erst einer Endzeit zugeschrieben: Völkerfriede, Tiefriede, Friede zwischen Mensch und Tier, hohes Alter und Überwindung des Todes. Das Paradies steht unter einem endzeitlichen Vorbehalt.

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