Andreas Mertin: Jesus Christ Superstar?

Eine Zeitreise

Jede Generation hat ihre Helden und jede Generation bildet vermutlich auch für Jesus Christus einen bestimmten Heroenmythos aus. Ohne derartige Mythen kann Überlieferung nicht funktionieren. So schrieb Walter Hollenweger vor knapp 40 Jahren: „Es gibt beobachtbare Tatsachen, die uns zeigen, dass eine Kirche ohne Mythos, ein Glaube ohne Mythos von der Mehrheit der Christen (inklusive der Pfarrer), ganz zu schweigen von den Nichtchristen, nicht verstanden werden kann. Das ist deshalb so, weil Kommunikation von Informationen ohne Mythenrahmen sich in allen Bereichen menschlichen Wissens als undurchführbar erwiesen hat.“(1) Er fügte allerdings zur Erläuterung hinzu: „Nicht jeder Mythos eignet sich als Darstellungsmedium des Evangeliums. Die Kriterien zur Unterscheidung des Mythos im allgemeinen und des ‘wahren Mythos’ werden aus dem Umgang der biblischen Schriftsteller mit dem ihnen vorliegenden Mythenmaterial erhoben.“ (2)

Man kann die Wundererzählungen im Neuen Testament betrachten als Antwort auf eine Herausforderung durch die zahlreichen zeitgleichen Narrationen von Wunderheilern und Magiern. Wer ist ein wahrer und wer ein falscher Wundertäter? Und was ist das wahre Wunder? Meisterlich ironisch karikiert wird das populärkulturell 1979 in Monty Pythons „Das Leben des Brian“ in jenem Teil, in dem es um die geforderten Zeichen und Wunder in der Wüste geht.
Schon das antike Bild von Christus ist nach Helden-Mythen gestaltet. Henrike Maria Zilling hat in ihrer Studie Jesus als Held. Odysseus und Herakles als Vorbilder christlicher Heldentypologie zu zeigen versucht, dass Herakles und Odysseus als Vorbilder für die literarische Ausgestaltung der Passion und des Martyriums Jesu dienten: Bei Odysseus müsse man auf die Geschichte mit den Sirenen blicken, in der der Held der Verlockung durch die Sirenen widerstehe, was dann von den urchristlichen Autoren entsprechend umgedeutet wurde. Und bei Herakles spiele vor allem dessen Todeskampf und Gottessohnschaft eine Rolle. (3)

Varianten und Facetten des „Helden Jesus“

In späteren Jahrhunderten entwickelten sich zwei konkurrierende Heroenmythen: der vom über den Tod triumphierenden Christus und der vom Gottessohn, der  mit den Menschen leidet. Im oberbayrischen Schaftlach sind im Verlauf der Jahrhunderte beide Konzepte am selben Kruzifix dargestellt worden.
Die mittelalterliche Legenda Aurea des Jacobus des Voragine, um 1264 entstanden, ist nichts anderes als ein Sagen- und Heroenbuch, mit zahlreichen populären Helden- und Heldinnen-Geschichten. Nicht umsonst war die Legenda Aurea das mit am meisten gelesene Buch der damaligen Zeit und bestimmt bis in die Gegenwart die christliche Ikonographie. Hier ist nicht nur Jesus Christus ein Superstar, sondern nahezu alle Heiligen und Märtyrer.
In der Folge finden wir in der Bildenden Kunst immer mehr Varianten und Facetten des „Helden Jesus“. Wir treffen 1320 bei Giotto auf den Christus, dem auch schon mal die Hand ausrutscht, während er den Tempel reinigt, 1524 bei Hans Holbein im Noli me tangere auf den vorsichtigen und abwehrenden Helden und 1603 bei Caravaggio den Helden, den (nicht nur) der Ungläubige Thomas anfassen darf. Wer nur ein wenig in der Regenbogenpresse der Gegenwart stöbert, findet alle diese Typen als mediale Charakterisierungen von Superstars wieder.

Der „Er-hat-Euch-alle-lieb“-Jesus und der Arier

Obwohl mit Caspar David Friedrich die große Zeit der christlichen Kunstgeschichte zu Ende geht, entwickelt das 19. Jahrhundert mit dem freundlichen „Er-hat-Euch-alle-lieb“-Jesus des Bertel Thorvaldsen eine der wirkungsmächtigen Heroen-Bilder überhaupt. You are welcome!
Der nationalsozialistische Arier-Jesus, der nach 1933 das deutsche Volk (und die deutschen Stahlhelmsoldaten) als Heroe beglückt, ist glücklicherweise nur an wenigen Stellen umgesetzt worden, exemplarisch zu sehen in der Martin-Luther-Gedächtniskirche in Berlin-Mariendorf.
Es gibt in der Kunst des 20. Jahrhunderts tatsächlich auch solche Bilder, in denen Christus als Revolutionsheld aufgebaut wird. In den Murales des Jose Clemente Orozco (1883-1949), einem mexikanischen Revolutionsmaler, steigt Christus vom Kreuz herab und zerschlägt es. Dreimal hat Orozco dieses Motiv gemalt, zweimal als Wandmalerei, einmal als Gemälde. Dabei unterschieden sich die Versionen deutlich. Das hier abgebildete Ölgemälde ist 94x130 cm groß ist das prägnanteste und stammt aus dem Jahr 1943; es findet sich heute im Nationalen Institut der Schönen Künste in Mexiko-Stadt.

Orozco bildet aber eine Ausnahme, in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts dominiert trotz allem nicht der heldenhafte Christus, sondern eher der in Frage gestellte Christus: Wo warst Du, als jene starben? (Ernst Barlach) Daran ändert sich nach 1945 nicht viel. Eine Ausnahme bildet Joseph Beuys, der 1971 mit seiner Basler Aktion Celtic+~ eine direkte Christusidentifikation vornimmt. Er beginnt die Aktion mit einer Fußwaschung und beendete sie mit einer Art Taufe.


Anfang der 70er-Jahre ist aber auch die Zeit, in der sich die Popkultur des Mythos und des Helden Jesus annimmt. 1970 erschien Andrew Lloyd Webers Musikalbum „Jesus Christ Superstar“, 1971 wurde das gleichnamige Musical in London uraufgeführt. Der dort auftretende Christus war nichts weniger als ein Superstar, eher ein Softie des 19. Jahrhunderts im Stil von Bertel Thorvaldsen. Nur seine Kritiker und Gegner (zum Beispiel Judas und Herodes) behandelten ihn so, als ob er als Held aufgetreten wäre. Würde man freilich nur den Titel „Jesus Christ Superstar“ hören, dann könnte man an eine Art Arnold Schwarzenegger am Kreuz denken. In Wirklichkeit war der Jesus im Musical rückblickend betrachtet eher „schräg“.

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Weiterlesen im Heft 4/16