Annika Falk-Claußen/Bernd Wildermuth: Ausgebremst

Schritte zählen und Kalorien berechnen, um fitter, schlanker und schöner zu werden – per Armband und App ist das einfacher denn je. Die Selbstoptimierung ist zum gesellschaftlichen Leitbild geworden, der Sport liefert dafür die Folien und Bilder. Kinder und Jugendliche eifern dem Trend nach. Das ist eine bedenkliche Entwicklung.

Vor einiger Zeit interviewte Wolf-Dieter Poschmann einen Athleten, der in seiner Disziplin gerade alles gewonnen hatte: Olympia, Weltcup und Weltmeisterschaft. Poschmann fragte ihn: „Wie wollen Sie das im nächsten Jahr noch toppen?“ Diese paradoxe Frage an einen „Alles-Gewinner“ bringt auf den Punkt, worum unsere Leistungsgesellschaft kreist: immer besser, immer mehr – höher, schneller, weiter! Das große gesellschaftliche Credo ist die permanente Steigerung. Es darf kein letztes Ziel, keinen Endpunkt geben. Poschmann sagte nicht: „Jetzt, da Sie alles gewonnen haben, könnten Sie doch eigentlich aufhören oder es ruhiger angehen lassen.“ So als sei es die Aufgabe des Athleten, dafür zu sorgen, dass es zumindest theoretisch im nächsten Jahr eine Steigerung geben könne. Die Leistungsgesellschaft gerät ausgerechnet im High-End-Bereich ins Straucheln und führt uns ihre Absurdität vor Augen: Wer alles gewinnt und sämtliche Rekorde bricht, wird zum Spielverderber. Der Sport ist zur Metapher für den Selbstoptimierungs-Trend geworden.

Durch den Coronavirus wurde unsere Gesellschaft auf noch nie dagewesene Weise ausgebremst. Ein „Höher – schneller – weiter” war in vielen Bereichen nicht mehr möglich. Auch die evangelische Jugendarbeit wurde ausgebremst, Einrichtungen und Institutionen bangen um ihre Existenz, Projekte fürchten den Verlust von Fördermitteln, Mitarbeitende haben Angst um ihre Jobs. Zwar hat die EJ diese besondere Situation in vielen Bereichen als Chance begriffen, neue Kommunikationswege zu gehen, neue Wege zu testen, um die Gemeinschaft weiter zu leben. Dennoch weiß niemand, wie diese Krise unsere Gesellschaft langfristig verändern wird.

Und der Druck auf Kinder und Jugendliche, der schon vorher groß war, wurde nicht kleiner. Sie durften viele Wochen nicht zur Schule gehen, ihre Freund*innen nicht treffen, bangten um Schulabschlüsse oder das Erreichen des Klassenzieles. Dazu kamen Sorgen und Nöte der Eltern, die Kinder gleich welchen Alters spüren. Wie sich Kinder in den vergangenen Jahrzehnten –vor „Covid-19” – verändert haben, schildert der Kinderpsychiater Michael Winterhoff im Interview ganz drastisch. Vor der Coronakrise hatte man den Eindruck: Es geht in unserer Gesellschaft nicht mehr um das gute Leben, sondern um das bessere Leben. Durch die Krise haben sich viele wieder darauf besinnt, was die wesentlichen Dinge und Fragen in unserem Leben sind. Wir mussten lernen, dass Planbarkeit und Machbarkeit ihre Grenzen hat, wie unser langjähriges Redaktionsmitglied Michael Freitag in einer Predigt schreibt, mit der wir auf die aktuelle Situation eingehen wollen. Ein besonderes Format im „baugerüst”, das zum Nachdenken anregen soll.

Das Heft haben wir geplant, bevor von „Covid-19” überhaupt einer gelesen hat. So sind auch fast alle Beiträge vor der Krise entstanden. Doch passen die Themen gut in die Zeit. Denn Depressionen im Kindes- und Jugendalter, von denen Stephan Kupferschmid schreibt, könnten durch die Krise weiter zunehmen. Durch Homeschooling, Videokonferenzen im haupt- sowie ehrenamtlichem Bereich haben alle irgendwie die Chancen und Risiken der Digitalisierung erlebt, die mehrere Autor*innen in ihren Beiträgen thematisieren.

Wir sind in dieser Welt ein Stück weit gezwungenermaßen zur Ruhe gekommen. Meditation, Yoga, Achtsamkeitsseminare boomen seit Längerem. Menschen müssen sich darauf besinnen, wieder im Gleichgewicht zu sein. Unsere Autorin Ursula Taplik ruft in ihrem Beitrag dazu auf, sich mehr kleine Auszeiten zu schaffen. In diesem Sinne hoffen wir, dass Sie die Ruhe zur Lektüre unserses neuen Heftes finden. Bleiben Sie gesund!

Schreiben Sie eine Mail an die Redaktion: baugeruest[at]ejb.de

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