Astrid Messerschmidt: WIR - Bildung für die Migrationsgesellschaft

... und rassismuskritische Reflexivität

Migration beunruhigt die Bildungsinstitutionen. Aus dem faktischen Alltagsphänomen ist ein diskursives Phänomen von Thematisierungen geworden. Darin taucht immer wieder die Frage auf: „Wer ist Wir“? wie ein Buchtitel von Navid Kermani lautet (Kermani 2009). Zwischen Öffnung und Abwehr trifft diese Frage auf ein Bildungsverständnis, in dem die Imago nationaler und europäischer Identität immer noch zur Selbstvergewisserung eingesetzt wird.

Der Kontext der Migrationsgesellschaft

Weil Migration nicht nur eine Tatsache ist, sondern zugleich diskursiv besetzt und eingesetzt wird, steht der  Begriff der Migrationsgesellschaft zumindest im deutschsprachigen Raum noch nicht für etwas Allgemeines, das alle angeht und mit dem alle gemeint sind. Mit dem Sig-nalwort „Migration“ bietet die Bezeichnung “Migrationsgesellschaft“ immer noch die Gelegenheit, nicht über sich selbst, sondern über andere zu sprechen. Denn obwohl mit diesem Begriff eine Kennzeichnung gegenwärtiger gesellschaftlicher Erfahrungen und weltweiter Normalität angeregt wird, setzt sich eine personifizierende Sicht auf „Migranten/innen“, die national-kulturell ethnisiert und als „Migrationsandere“ positioniert werden (Mecheril 2004, S. 36), immer wieder durch. Ihr Anderssein wird untersucht, anstatt die Perspektive zu wechseln und die Prozesse zu betrachten, die Gruppen als anders konstituieren und Differenz vereindeutigen.

Migrationsgesellschaftliche Bildungsansätze fragen nach den Bildungsstrukturen und Bildungsbedingungen in einer von Migration geprägten Gesellschaft. Zu diesen Bedingungen gehört das spezifische Problem asymmetrischer Beziehungen beim Sprechen über „Migranten“ (Mecheril/Messerschmidt 2013). Schließlich sprechen hier oftmals Etablierte über Außenseiter, Integrierte über nicht (genügend) Integrierte, Mehrheitszugehörige über Minderheiten. Das gibt dem Diskurs eine spezifische Struktur machtvoller Identifikationen. Erst die Reflexion dieser Struktur ermöglicht es, den Diskurs kritisch zu wenden. Erschwert wird eine Kritik ungleicher sozialer Positionierungen dadurch, dass mit der Denkfigur interkultureller Bildung die Wahrnehmung von Migration gerade in der Pädagogik kulturalisiert worden ist (vgl. Kiesel 1996). Die Kulturalisierung von Migration ist sowohl im erziehungswissenschaftlichen Diskurs wie in der Bildungspraxis erfolgt und erweist sich trotz breiter Kritik als ausgesprochen hartnäckig (vgl. Höhne 2001).

Jugendarbeit und Jugendverbände bieten potenziell die Möglichkeit, Migration und „Heterogenität als Normalfall“ (Kalpaka 2006) anzuerkennen. Doch der Normalfall Migration trifft auf die Macht der Nationalität, die nach wie vor das einflussreichste Kriterium für die Zuteilung von Rechten geblieben ist. Demgegenüber dient der Begriff der Migrationsgesellschaft als Konzept, mit dem ein „dritter Raum“ (Bhabha 2000) neben den dualistischen Identifikationen von Deutschen und Eingewanderten artikulierbar wird. Doch ehe überhaupt die Selbstbeschreibung als Einwanderungsgesellschaft etabliert werden konnte, zieht der Begriff Zuwanderung eine neue Grenze. Mit ihm wird die Rede von einer „Einwanderungsgesellschaft“ vermieden, da mit dieser ein allzu großes Maß an innerer Veränderung signalisiert würde. Demgegenüber bleibt ‚Zuwanderung’ etwas Äußerliches, dem ein Ankommen im Inneren der Gesellschaft nicht möglich ist. „Jemand, der zuwandert, kann auch schnell wieder abwandern, hat es nicht in die Bevölkerung hinein geschafft (…)“ (Utlu 2011, S. 448, Hervorh. im Original). Solange Migration nicht als innere Wirklichkeit der eigenen Gesellschaft anerkannt wird, bleibt eine migrationsgesellschaftliche Öffnung in der Abwehr jeder Veränderung stecken, obwohl diese Veränderung im gesellschaftlichen Innenraum längst stattgefunden hat.

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