Barbara Pühl: Das Jugendalter – eine Krise?

Einblicke in die Entwicklungspsychologie

Nicht erst Corona hat die Jugend in eine Krise gestürzt. Die Vorstellung des Jugendalters als krisenhafter Dauerzustand zieht sich vielmehr durch die Jahrhunderte. Schließlich ist die Adoleszenz geprägt von körperlichen, kognitiven und psychischen Veränderungen, die zu Auseinandersetzungen mit dem eigenen Selbst und der Umwelt führen. Die steigenden Erwartungen des sozialen Umfelds an Jugendliche wiederum tragen ein Übriges dazu bei. Dennoch ist es ratsam, genauer hinzusehen und gewisse Unterscheidungen zu machen, wenn man von Jugend und Krise spricht.

Jugend und Krise

Das Begriffspaar „Jugend und Krise“ wurde durch den Psychoanalytiker Erik H. Erikson geprägt. Er hatte die menschliche Entwicklung als eine Abfolge von acht aufeinanderfolgenden Stufen beschrieben, in der jeweils eine spezifische psychosoziale Krise zu durchlaufen sei. In seinen Werken konzentrierte er sich vor allem auf die erste (Säuglingsalter) und die fünfte (Jugendalter) Lebensphase – weil er diese für besonders bedeutsam ansah. Das Jugendalter verband er mit der Identitätskrise, die zu bewältigen für ihn die Voraussetzung für den Eintritt in das Erwachsenenalter war.

Den Begriff der Krise hatte Erikson aus der Biologie übernommen. Dort wurde damals die Ansicht vertreten, dass das Wachstum einem festgelegten Bauplan mit „kritischen Phasen“ für jedes Organ folge. Eine Störung in dieser Phase führe zu einem irreversiblen Schaden und hätte dementsprechende Auswirkungen auf den gesamten weiteren Entwicklungs- und Lebensverlauf. 

Erikson verknüpfte dies mit den von Freud formulierten Phasen der psychosexuellen Entwicklung und übertrug dies auf die psychosoziale Entwicklung. Mit der Beobachtung, dass die Identitätskrise eher eine Lebensaufgabe als eine auf das Jugendalter begrenzte Frage ist, wurde sein Modell jedoch zunehmend in Frage gestellt. Heute gilt die Vorstellung einer stufenweisen Entwicklung nach festem Plan als überholt. Auch die Existenz von kritischen Phasen ist äußerst umstritten. Im Folgenden wird deshalb die Jugendphase nicht pauschal als Krise, sondern unter Einbezug neuerer Forschung als Lebensphase des Übergangs und der damit verbundenen Herausforderungen betrachtet.

Adoleszenz als Übergang
Entwicklungsaufgaben und kritische Lebensereignisse

Als Lebensabschnitt, der zwischen der Kindheit und dem Erwachsenenalter liegt, ist die Adoleszenz eine Übergangsphase. Sie ist gekennzeichnet von körperlichen, mentalen und psychischen sowie von sozialen Veränderungen, die maßgeblichen Einfluss auf die Identitätsentwicklung und den weiteren Lebenslauf haben. In einem relativ überschaubaren Lebensabschnitt von etwa zehn Jahren gilt es, diese zu bewältigen. 

Absehbare Veränderungen und Entwicklungsaufgaben

Ein großer Teil des Übergangs besteht aus vorhersehbaren und in gewisser Weise planbaren Veränderungen. Dazu gehören das Wachstum und die Reifung geschlechtsspezifischer Körperteile und Organe in der Pubertät und das damit verbundene veränderte Aussehen. Absehbar ist auch die Zunahme der kognitiven und motivationalen Fähigkeiten, das Vermögen, mehr und mehr hypothetisch und abstrakt zu denken, sowie die Verbesserung von Gedächtnisleistungen. Angestoßen durch diese Transformationsprozesse eröffnet sich Jugendlichen der Blick auf das eigene Selbst. Dieses wird reichhaltiger und umfassender als bisher wahrgenommen. Abstrakte Selbstbeschreibungen werden möglich. 

Jugendliche entdecken, dass sie in ihren sozialen Beziehungs- und Lebensräumen unterschiedliche Rollen haben. Die Verhaltensmuster, Wertvorstellungen und Erwartungen dieser Räume (Familie, Peergroup, Schule etc.), die nicht übereinstimmen, sowie die differenzierte Selbst- und Fremdwahrnehmung werden als Spannungen erlebt. Es entsteht die Frage nach dem Selbst und seinem Platz innerhalb des ganzen Gefüges. Zum Ausdruck kommt dies in der Frage nach der eigenen Identität.

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Dr. Barbara Pühl ist Beauftragte für Chancengerechtigkeit der Ev.-Luth. Kirche in Bayern. Sie war in der Jugendforschung und Jugendarbeit aktiv. Aktuell setzt sie sich für Transformationsprozesse hin zu einer Vielfalt bejahenden Kirche und einem chancengerechten Miteinander ein.

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Foto: Aleksei Morozov//iStock by Getty Images