Bernd Wildermuth: Die Perspektive ändern

Landschaften statt Inseln

Ein geflügeltes Wort macht in der württembergischen Landeskirche gerade die Runde: „Landschaften statt Inseln“.(1) Als 2013 die württembergische und die badische Landeskirche miteinander verabredeten eine große statistische Erhebung der Arbeit mit Kinder und Jugendlichen zu machen, da ahnte noch niemand, dass aus dem ‚Zählen‘ ein qualitativer Wandlungsprozess entstehen sollte. Dieser Veränderungsprozess hat seinen Grund darin, dass nicht nur die Jugendarbeit im klassischen Sinn, sondern die gesamte Arbeit mit Kindern und Jugendlichen erfasst werden sollte – und zwar auf allen Ebenen kirchlichen Handelns, in der Gemeinde, in den Kirchenkreisen / Dekanaten und auf landeskirchlicher Ebene. Neben der Jugendverbandsarbeit wurden deshalb auch der Kindergottesdienst, die kirchenmusikalische Arbeit mit Kindern und Jugendlichen und die Arbeit mit Konfirmandinnen und Konfirmanden in die Statistik mit einbezogen.

Zum ersten Mal mussten all diese Arbeitsbereiche intensiv miteinander kooperieren, Fragen, Items, miteinander abstimmen und überlegen wie diese Statistik so aufgesetzt werden kann, dass für alle valide Zahlen herauskommen. In diesem gemeinsamen Prozess wurde schnell deutlich, dass die Unterschiede und Abgrenzungen zwischen diesen Bereichen, die bei einer oberflächlichen äußerlichen Betrachtung immer ins Feld geführt werden, so nicht haltbar sind. Im Kindergottesdienst werden eben nicht nur biblische Geschichten erzählt und Gottesdienst gefeiert, sondern es wird eben auch gespielt und gesungen. In der kirchenmusikalischen Arbeit mit Kindern ist es auch nicht nur so, dass auf Auftritte oder auf das Mitwirken im Gottesdienst hin musikalisch geprobt wird, sondern Kinder- und Jugendchöre sind gemeinsam auf Freizeiten unterwegs. Es werden Andachten gehalten und es wird miteinander gespielt. Und in der Jugendarbeit, beispielhaft kann man an eine Jungscharstunde denken, wird auch nicht nur gespielt, sondern ebenso gebetet und gesungen. Und es werden biblische Geschichten erzählt, neben all dem anderen (diskutieren, basteln, Fahrradtouren, Kanu fahren, Theater spielen etc.), was dort und anderswo auch noch getan und erlebt wird.

Je nachdem in welchem Bereich der evangelischen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen sich ein Kind bzw. Jugendlicher bewegt, stehen bestimmte Dinge im Fokus, die es aber auch in der einen oder anderen Weise in den anderen Angeboten der evangelischen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen gibt. Was Jugendarbeit, Kinderkirche, Konfirmandenarbeit und Kirchenmusik verbindet, ist ein ganzheitlicher christlicher Ansatz. Deshalb sind alle Angebote bei aller Fokussierung Teile einer Landschaft und nicht voneinander isolierte Inseln, die nichts bis wenig miteinander zu tun haben und sich womöglich als Konkurrenten auffassen. Sie schöpfen aus derselben Quelle, der biblisch-christlichen Tradition und haben ein weites, aber durchaus gemeinsames Repertoire.

Ein Angebot der Kirche

Damit ist auch schon eine Teilantwort auf die Frage „Wie verhalten sich diese Bereiche zueinander?“ gegeben. Natürlich kommt die evangelische Kinder- und Jugendarbeit aus der Tradition der Jugendverbandsarbeit. Nach KJHG §11 und 12 geschieht Jugendarbeit freiwillig, partizipatorisch und selbstbestimmt. Aber in einer pluralen Optionsgesellschaft, in der die konfessionellen Milieus nur noch in regional sehr überschaubaren Gebieten – vor allem Süddeutschlands – oberhalb der Wahrnehmungsgrenze liegen, hat die gesamte evangelische Arbeit mit Kindern und Jugendlichen diesen Charakter, auch die Konfirmandenarbeit. Und dass Kinder und Jugendliche bei dem was in Gruppenstunden und Projekten geschieht mitbestimmen, ist im Jahr 2017 ein pädagogischer und partizipatorischer Gemeinplatz.

Die Demokratie ist im Freizeitbereich in allen Lebenswelten angekommen.Ein weiteres Plädoyer dafür in Landschaft statt in Inseln zu denken, liefert ein Perspektivenwechsel. Von außen - von den Jugendlichen, Kindern und ihren Eltern aus - betrachtet ist die gesamte evangelische Arbeit mit Kindern und Jugendlichen ein Angebot der Kirche und es ist fraglich, ob dabei noch in Konfessionen unterschieden wird. Ähnliches dürfte übrigens auch für die Angebote anderer Verbände, zumindest der weltanschaulich geprägten gesagt werden. Landschaften statt Inseln ist der eine Perspektivenwechsel. Der andere geht ins Mark des Selbstverständnisses der Jugendarbeit. Wer Jugendarbeit hört, der denkt unweigerlich sofort an 14-18jährige Jugendliche, vielleicht auch an junge Erwachsene, die ihr Ding machen. Die Zahlen der Statistik „Jugend zählt!“, zeigen aber etwas ganz anderes auf. Nimmt man einmal die Konfirmandenarbeit und die schulbezogene Jugendarbeit heraus, dann standen im Jahr 2013 ca. 47.000 teilnehmende Kinder in Jungschar- und Kindergruppen ca. 22.000 teilnehmenden Jugendlichen in Jugendgruppen und Jugendkreisen gegenüber. Und von diesen 22.000 sind noch 2000 Kinder im Alter von 8-12 Jahren. (2)

Damit sind gut 70 Prozent der Teilnehmenden im Kerngeschäft der evangelischen Jugendarbeit, der Gruppenarbeit, Kinder. Ganz ähnliche prozentuale Verteilungen haben sich in Kinder- und Jugendchorarbeit in Baden-Württemberg ergeben. Festzustellen ist: Das Gros der evangelischen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen findet eindeutig im Bereich der Arbeit mit Kindern statt. Sie sind die Zielgruppe mit der eindeutig höchsten Reichweite. 30 Prozent aller evangelischen sechs bis acht Jährigen nehmen in Württemberg ein regelmäßiges Gruppenangebot der Jugendarbeit wahr. (3) Und dazu kommen noch die 10,8 Prozent erreichter Kinder in der Kirchenmusik und die 16,8 Prozent im Kindergottesdienst, wobei es eine ganze Reihe Kinder geben wird, die das eine wie das andere Angebot wahrnehmen.

Was bedeutet das für die Gesamtwahrnehmung?

Ganz sicherlich geht es nicht um ein Ausspielen von Alterskohorten gegeneinander, hier die Arbeit mit Kindern, dort die Arbeit mit Jugendlichen. Es wird zu Recht von der Jugendarbeit beklagt, dass eine eigenständige Jugendpolitik zurzeit gerade fehlt, weil sich in den vergangen Jahren, fast muss man schon sagen Jahrzehnten, das Augenmerk der Politik eindeutig auf den Bereich der Kindheit gerichtet hat. In der Kirche und in der Jugendarbeit speziell war und ist es aber genau umgekehrt. Das Augenmerk der Verantwortlichen in Kirchengemeinden richtet sich darauf wie viele Jugendliche nach der Konfirmation in irgendeiner Form in der evangelischen Jugendarbeit dabei sind. Aus anderen Studien, unter anderem aus „Brücken und Barrieren – Jugendliche auf dem Weg in die Evangelische Jugendarbeit“, wissen wir, dass vor allem Jugendliche in der evangelischen Jugendarbeit beheimatet werden und „ihren“ Ort finden, die zuvor auch als Kind in der evangelischen Jugendarbeit aktiv waren. „Die Studie [Brücken und Barrieren] stellt fest, dass die Teilhabe an Evangelischer Jugendarbeit in der Regel Fortführung einer bereits in der Kindheit aufgebauten Verbindung zu Gemeinde und Glaube ist.“(4)Überspitzt könnte man sagen, nur wer in einer Jungschar war, die Kinderkirche regelmäßig besucht hat oder in einem Kinderchor gesungen hat, der wird auch als Jugendlicher den Weg in die evangelische Jugendarbeit nach der Konfirmation finden

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