Theologische Aspekte für die Arbeit im Sozialraum
Eine ältere Frau mit rosa Lockenwicklern im Haar lehnt im Fenster eines Wohnblocks und schaut ins Weite. Zum Bild auf der Postkarte noch der Text: „Meine Stadt, mein Bezirk, mein Viertel, meine Gegend, meine Straße, mein Zuhause, mein Block.“ Hier geht es nicht um einen Reiz der Wohnumgebung, der für alle offensichtlich und plausibel wäre. Es geht um den Raum, auf den es für die ältere Frau ankommt. Hier findet das Leben statt – oder eben, wie in dieser ruhigen Szene, die Entspannung ebenso wie die Langeweile. Der Text stammt vom Rap-Künstler Sido aus dem Jahr 2004 und ist Teil eines Songs über das Lebensgefühl im Plattenbau. Im Song nimmt der Text seinen Lauf: „Meine Gedanken, mein Herz, mein Leben, meine Welt reicht vom ersten bis zum sechzehnten Stock.“ Der Erfolg dieses Liebeslieds an eine gemeinhin als unschön betrachtete Gegend war enorm. Es kommt eben auf die Bedeutsamkeit des Raums an, in dem das Leben stattfindet.
Da mag das Schöne und Wichtige anderen verborgen bleiben: Aus der Sicht der beteiligten Subjekte geschieht hier Verwurzelung, die sich jedem von außen herangetragenen Kriterium entzieht.Es kommt auf den Raum an, so lautet die Weisheit, die nach dem so genannten „spatial turn“ in den Sozialwissenschaften seit den 1990-er-Jahren auch die Pädagogik und damit die Religions- und Gemeindepädagogik erfasst hat. (1) Gedanklich anknüpfen lässt sich diese Wendung an der Gemeinwesenarbeit, die bereits viele Jahre zuvor gezeigt hatte, wie sich pädagogische Arbeit mit Bezug zum konkreten Lebensraum der Menschen und in der Vielzahl der beteiligten Akteurinnen und Akteure, Interessengruppen und Vereine umsetzen lässt und neue Ressourcen erschließt. Jetzt, im „spatial turn“, steht zunächst der Gedanke des Raums im Vordergrund. Die Rede vom Raum lenkt den Blick auf neue Dimensionen der sozialen Wirklichkeit, die sich in Karten, Statistiken oder subjektiven Betrachtungen einfangen lässt.
Was ist nun an diesem Nachdenken über den Raum neu oder auf neue Art gewinnbringend für die pädagogische Arbeit? Über die schlichte Erkenntnis hinaus, dass ja notgedrungen alles kirchliche Arbeiten in Räumen stattfindet, gilt es nun, das eigene Sein im Raum zu verstehen – und von hier aus zu entdecken, was das mit der Theologie zu tun hat. Zwei gegenläufige und sich darin ergänzende Lesarten des Raums helfen, diese neue Komplexität zu verstehen:
Inhalte und Grenzen beschreiben den Raum …
Der Raum ist erstens zu beschreiben als topografischer Raum mit seinen Begrenzungen, landschaftlichen oder baulichen Gegebenheiten, als vorhandene Räumlichkeiten und das, was sie als Bedingungen für die Begegnung in ihnen bieten. Manches Lebensgefühl richtet sich auf diese Grenzen: Ich lebe genau hier, hinter der Bahnlinie sind die anderen. Die Wahrnehmung des eigenen Raums („mein Viertel, meine Gegend, meine Straße“) lebt von dieser Vorstellung. Der Soziologe Anthony Giddens hat den so verstandenen Raum mit dem Begriff „place“ verknüpft. (2) Der Raum ist da, und er ist unabhängig von seinem Inhalt und dem, was in ihm geschieht, bereits existent. Seine Bedeutung für die Menschen entsteht im Wechselspiel zwischen dem bereits vorfindlichen Raum und dem Geschehen in ihm. Die Theologie hat sich zu allen Zeiten mit der „Verortung Gottes“ befasst: Einerseits wird Gott „im Himmel“ gedacht, andererseits der unbegrenzte Zugriff und die unbegrenzte Gegenwart an allen Orten vorgestellt. Das hier beschriebene Raumverständnis hat seine theologische Entsprechung etwa in biblischen Geschichten, in denen Menschen nach der Begegnung mit Gott am jeweiligen Ort einen Altar oder einen Brunnen bauen – in der Vorstellung vom heiligen Raum, von einem Ort, der durch Gott bereits als bedeutsam oder verheißungsvoll markiert ist (z.B. Gen. 26,25).
Eine in diesem Sinn sozialräumliche pädagogische Arbeit berücksichtigt den Ort, an dem sie geschehen soll, und seine Auswirkung auf die Beteiligten. Sie berücksichtigt die Bevölkerungsstruktur und die Gegebenheiten vor Ort. Zielgruppen werden identifiziert und in ihrer Lebenssituation am Ort wahrgenommen. Hier ist die organisationale Perspektive der Sozialstruktur im Blickfeld, das Netz aus Vereinen und Initiativen, Mitgliedschaften und Formen der Zugehörigkeit, der örtlichen und überörtlichen Machtverhältnisse und Hindernisse.
Von Bedeutung ist, wer vor Ort lebt und wie es dort zugeht, welche Traditionen fest im Ort verankert sind und auf diese Weise das soziale Gefüge prägen. Es weitet sich der Blick von der Kirche auf die Straße, die Schulen, Einkaufsmöglichkeiten oder Versammlungsplätze. Dieses Verständnis wird zuweilen fälschlicherweise bereits als umfassende Sozialraumorientierung verstanden. (3) Es fehlt ihm jedoch das Komplementär zu einem umfassenden Verständnis, in dem das stark materielle oder topografische Raumverständnis mit den entscheidenden Aspekten angereichert wird:
… und: Bedeutung und Sinn bilden den Raum
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