Gert Pickel: Muss Glauben gelernt werden?

Vom Schrumpfen religiöser Milieus und dem Rückgang religiöser Sozialisation

Betrachtet man die Gegenwartsdiagnosen der Entwicklung des Religiösen in Deutschland und Europa, so dominiert in den Zahlen die Wahrnehmung einer Entkirchlichung, eines Traditionsverlustes des Christentums, eines sozialen Bedeutungsverlustes von Religion (Säkularisierung) oder gar eines weitreichenden Glaubensverlustes.(1) Zwar mag der eine oder andere Betrachter noch meinen der christliche Glaube bleibe auch erhalten, wenn es keine Institution Kirche mehr gäbe, sehr realistisch scheint dies aber anhand der bereits seit Jahrzehnten ablaufenden und nachprüfbaren Entwicklungen nicht zu sein. So wie sich die Kirchen leeren, Kirchenmitgliedschaftszahlen absinken, diffundiert auch der Glaube an Gott und die Zustimmung zu vielen Glaubensinhalten sinkt in der deutschen und den meisten europäischen Bevölkerungen. Mittelfris-?tig muss man sich vielleicht nicht mit einem vollständigen Verschwinden des Glaubens abfinden, dafür ist die Präsenz von Religion in der Gesellschaft, wie auch die Zugehörigkeit zur christlichen Kirche doch noch deutlich zu verbreitet, ein Schrumpfungsprozess religiöser Milieus ist aber angesichts dieser Entwicklungen nur schwer zu leugnen. 

Was sind die Gründe für diese Entwicklung? Hier könnte man viele anführen, speziell wenn man die Vielschichtigkeit der Erklärungskomponenten aus der Säkularisierungstheorie ernst nimmt. Zunehmender Wohlstand, zunehmende individuelle Mobilität, zunehmende Individualisierung, zunehmende Urbanisierung verbunden mit einer Landflucht, die zunehmende Rationalisierung des Lebens sowie eine abnehmende Bindung der Menschen an ihre Herkunftsgemeinden, sind nur einige davon. Entscheidender Schlüsselmechanismus ist in allen Varianten der Säkularisierungstheorie die religiöse Sozialisation. Und so ist es dann auch vor allem das langsame, über die Generationen zu beobachtende, Erodieren in der Weitergabe des Glaubens, welche zu den angeführten Tendenzen führt. Erst jüngst unterstrichen die Ergebnisse der V. Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung der EKD wieder den Befund des langsamen Schwindens der Weitergabe des Christentums an die nächste Generation.(2) So sagen nur noch 50% der 14- bis 29-Jährigen Protestanten 2012, dass sie das Gefühl haben, religiös sozialisiert worden zu sein. Dies steht im Gegensatz zu den über 65-Jähigen, wo diese Antwort noch von 80% gewählt wird. Sehr ähnlich sieht es in der gleichen Frage des Bertelsmann Religionsmonitors 2013 aus, wo der Anteil derjenigen unter den 16- bis 25-Jährigen Bürger, die sich als religiös erzogen ansehen bei gerade mal einem Viertel der Befragten in Westdeutschland und einem Achtel in Ostdeutschland liegt.(3) Diese Entwicklung drückt sich dann auch über die letzten Jahrzehnte stabil darin aus, dass je jünger die Generation der Deutschen, je geringer ist die Bindung an die Kirche, die Durchführung des persönlichen Gebetes, die selbstbekannte Religiosität und die Klarheit des Gottesglaubens.

Hinter diesen Prozessen steht keine dramatische oder wohl begründete Abwendung der Menschen vom christlichen Glauben, oder auch nur der Kirche. Vielmehr handelt es sich um einen Abbruch der religiösen Sozialisation als einem langsamen, wenn man so will schleichenden, Prozess. So ist es mehr und mehr Eltern nicht mehr so wichtig, dass ihre Kinder im Glauben erzogen werden. Wenn sie dies noch relevant finden, dann ist es zudem keinesfalls die erste oder zweite Priorität dessen, was ihr Kind erlernen sollte. Wichtiger ist ihnen, dass ihre Kinder lernen unabhängig für sich zu entscheiden, sich selbst zu verwirklichen und mit anderen Menschen solidarisch zu sein. Auch die Fähigkeiten sich im Leben zu behaupten und etwas zu erreichen, liegen klar vor dem Wunsch, dass die Kinder religiös sind. Nicht, dass man aktiv gegen eine Beschäftigung mit Religion und Glauben arbeitet, es ist einem weitgehend egal, ob Kindern dies tun oder nicht. Es ist eben deren Entscheidung. Im Gegenteil, als Elternteil hat man eher ein schlechtes Gewissen, wenn sich das Gefühl einstellt, man würde seinen Kindern Glauben quasi aufoktroyieren. Dies ist heute vor dem Hintergrund des gesellschaftlich geteilten Kanons von Selbstverwirklichung und Überwältigungsgebot kaum akzeptabel. Eine solche, doch eher zurückhaltende, Haltung zur Glaubensweitergabe hat ihre Wirkung: So empfinden die Kinder Religion bei dieser defensiven Haltung in der Vermittlung kaum als etwas für ihr Leben wichtiges. Die Eltern leben ihnen ja in den meisten Fällen (denn es gilt natürlich nicht für alle) die Nachrangigkeit des Glaubens quasi exemplarisch vor. Dies drückt sich konsequenterweise in deren Engagement hinsichtlich einer Weitergabe des Glaubens an ihre Kinder – also jetzt die Enkelkinder – aus. Dieses sinkt über die Generationen hinweg weiter kontinuierlich ab. So ist es dann auch logisch nachvollziehbar, wenn Konfessionslose selten sagen, sie haben sich bewusst gegen einen Glauben entschieden, zumeist äußern sie, „sie haben Religion einfach nicht gelernt“. Ebenfalls wundert es nicht, wenn die Antwort auf die Frage, ob es wichtig ist, dass Kinder eine religiöse Erziehung bekommen in Westdeutschland 15 Prozent und in Ostdeutschland bei mageren fünf Prozent verbleibt, während noch 28 Prozent in Westdeutschland und 12 Prozent in Ostdeutschland sich dazu bekannten eine religiöse Erziehung erhalten zu haben.(4)

Fehlende religiöse Kommunikation als Umfeld fehlender religiöser Sozialisation?

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