Heiner Keupp: Angst vor der Freiheit? Leben in der "Metamorphose der Welt"

Individualisierung als riskante Chance

Bis in die Gegenwart hinein gab es kulturell vorgezeichnete Lebensmodelle und sie haben den Menschen Grundrisse für ihre eigenen Lebensentwürfe und Selbstthematisierungen geliefert. Das Hineinwachsen in die Gesellschaft bedeutete, sich in diesem vorgegebenen Identitätsgehäuse einzurichten. Die aktuelle Identitätsforschung hat Konjunktur erhalten, weil die traditionellen Grundrisse der Identitätsgehäuse ihre Passform für die Lebensbewältigung zunehmend verlieren. In spätmodernen Gesellschaften erhalten Menschen immer mehr die Möglichkeit, sich selbst zu konstruieren. Aber ArchitektIn und BaumeisterIn des eigenen Lebensgehäuses zu werden, ist nicht nur Kür, sondern zunehmend Pflicht in einer grundlegend veränderten Gesellschaft. Es hat sich ein tiefgreifender Wandel von geschlossenen und verbindlichen zu offenen und zu gestaltenden sozialen Systemen vollzogen.

Nur noch in Restbeständen existieren Lebenswelten mit geschlossener weltanschaulich-religiöser Sinngebung, klaren Autoritätsverhältnissen und Pflichtkatalogen. Die Möglichkeitsräume haben sich in einer pluralistischen Gesellschaft explosiv erweitert. In diesem Prozess stecken enorme Chancen und Freiheiten, aber auch zunehmende Gefühle des Kontrollverlustes und wachsende Risiken des Misslingens. Die qualitativen Veränderungen in der Erfahrung von Alltagswelten und im Selbstverständnis der Subjekte könnte man so zusammenfassen: Nichts ist mehr selbstverständlich so wie es ist, es könnte auch anders sein; was ich tue und wofür ich mich entscheide, erfolgt im Bewusstsein, dass es auch anders sein könnte, und dass es meine Entscheidung ist, es so zu tun. Das ist die unaufhebbare Reflexivität unserer Lebensverhältnisse: Es ist meine Entscheidung, ob ich mich in einer Gewerkschaft, in einer Kirchengemeinde oder in beiden engagiere oder es lasse.

Die benannten Phänomene werden unter dem Begriff der Individualisierung gebündelt und er hat teilweise euphorische Diskurse ausgelöst, die man als „emphatische Individualisierung“ bezeichnen könnte. In diesem Diskurs sind die großen Freiheitsgewinne angesprochen worden, die mit dem Auszug aus den Zwangsverhältnissen traditioneller Lebensgehäuse verbunden sei.  Vor allem die neoliberal getönten Narrationen betonen die grenzenlose Plastizität der menschlichen Psyche und die Steuerungsverantwortung des Ego-Taktikers, der sich endgültig von allen institutionellen Sicherheitsgarantien verabschiedet hat und die Regie über seine Arbeitskraft vollkommen selbst übernommen hat, der „Arbeitskraftunternehmer“. Seit dem der Begriff der Individualisierung Gegenstand der Theoriedebatten geworden ist, werden vermehrt die Folgen dieses Prozesses für Individuum und Gesellschaft kontrovers diskutiert. Dabei ist es durchaus bedeutsam, dass eine allein positive Konnotation des Begriffes, die nur auf die erfreulichen, weil befreienden Effekte des Freisetzungsprozesses aus überkommenen Bindungen und aus bis dato unhinterfragbaren Verpflichtungen, im strengen Sinne nicht vorliegt. Denn noch die eifrigsten Vertreter einer positiven Lesart weisen auf die Ambivalenzen des Individualisierungsprozesses für das einzelne Subjekt hin. Demgegenüber betonen die Vertreter einer negativen Lesart in erster Linie eine Verfallsperspektive im Hinblick auf das Verschwinden bisheriger sozialer Bindungen und Identitäten.

Identität in aller Munde und gerade in Zeiten gesellschaftlicher Umbrüche scheint kaum ein Text ohne Bezug zur Identitätsthematik auszukommen. Das gilt für die individuelle Ebene, wenn Biografien oder Wohlbefinden thematisiert werden, und es gilt für die kollektive Ebene, wenn es um Gemeinschaftserleben oder das Gefühl der Bedrohung durch fremde Kulturen geht. Sogar eine Gruppierung im rechtsradikalen Spektrum nennt sich „identitäre Bewegung“ und macht einen Begriff zum Markenzeichen, der noch vor einigen Jahrzehnten allenfalls in Fachdiskussionen vertraut war. Diese europaweite Organisation verspricht ihren Anhängern eine Welt, in der stabile Identitäten möglich sind, die von allen kulturellen Vermischungen „gereinigt“ werden. Identität wird hier zum Synonym für eine Krise alltäglicher Selbstverständlichkeit, für Ängste, die damit verbunden sind und für Lösungsversprechen. Diese bedienen eine regressive Sehnsucht nach Rückkehr zu einer vertrauten und Sicherheit garantierenden Lebenswelt. Genau das führt zu einer Thematisierung von individuellen und kollektiven Verortungen und das ist die Identitätsbaustelle.

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