„Ich finde es belastend, dass wir in der Flüchtlingsdiskussion europäische Solidarität verloren haben.”

Ein Gespräch mit der ehemaligen Bundesjustizminsterin Herta Däubler-Gmelin (SPD) und dem Bundestagsabgeordneten Pascal Kober (FDP) über ein gerechtes Steuersystem, globale Gerechtigkeit und Solidarität mit den Bundeswehr-Soldat*innen.


baugerüst: Was bedeutet für Sie Solidarität in unserer heutigen Gesellschaft?

Pascal Kober: Wir haben Solidarität in unserer heutigen Gesellschaft zu einem erheblichen Teil institutionalisiert. Wir haben einen Sozialstaat, der – Bund, Länder und Gemeinden und Sozialversicherungen zusammengefasst – 1,19 Billionen Euro schwer ist. Das wird erwirtschaftet, das wird umverteilt. Im Artikel 20 unseres Grundgesetzes finden wir die Festlegung, dass die Bundesrepublik ein demokratischer und Bundestaat ist. Zu unserem Sozialstaat gehören auch die Gewerkschaften, Verbände und Vereine und Kirchen. Wir haben ein anderes Verständnis von Solidarität, als es noch in biblischen Zeiten der Fall war, wo Solidarität an die unmittelbare Herzensregung jedes Einzelnen gebunden war. Es ist gut und richtig, dass wir in einem sozialen Rechtsstaat leben, in dem Solidarität zu einem erheblichen Teil institutionalisiert wurde und zu sozialen Rechten der Betroffenen wurde, die nicht an die Herzensregung eines Anderen gebunden sind. Nun darf man sicherlich fragen, inwieweit in unserer Gesellschaft das Eine das Andere ein Stück zurückdrängt, ob die 17 Millionen Ehrenamtlichen, die einen freiwilligen Beitrag zur solidarischen Gesellschaft leisten, viel oder wenig sind. Herta Däubler-Gmelin: Solidarität heißt für mich, auch an andere zu denken und insbesondere die Lebensumstände anderer Menschen in die eigenen Überlegungen einzubeziehen. Solidarität bedeutet auch, dass Leute, denen es gut geht, die Verantwortung haben, mit anderen zu teilen, die Hilfe oder Unterstützung brauchen. Wir in Deutschland leben in Europa und in unserer globalisierten Welt. Deshalb erstreckt sich die Verantwortung auch auf die Menschen, die dort leben.

baugerüst: Viele Menschen leben eher nach dem Prinzip „Ich bin mir selbst der Nächste“, vor allem in den vergangenen Monaten. Hat die Solidarität aus Ihrer Sicht während der Coronakrise gelitten?

Däubler-Gmelin: Meine Erfahrungen sind sehr unterschiedlich. Es gibt ja Menschen, die immer der Meinung sind, ihre Rechte und ihre Befindlichkeiten seien entscheidend und gingen vor. Das habe ich in der Covid-Zeit auch erlebt, als sehr störend. Aber da war auch genau das Gegenteil: eine unglaublich große Hilfsbereitschaft, die nicht nur aus dem Kopf, sondern auch aus dem Herzen kam. Das hat mir sehr gefallen. Ich habe das insbesondere auch bei jungen Leuten bemerkt.

Kober: Ich würde es auch positiv sehen, wenn ich die Gesamtbilanz ziehe. Es gab einige, die unsolidarisch, sehr laut und gewalttätig aufgetreten sind in Sprache und Handlungen. Der traurige Höhepunkt war die Tötung eines Tankstellenmitarbeiters in Idar-Oberstein. Aber das spiegelt nicht das Bild wider, das ich insgesamt wahrgenommen habe, nämlich eine große Bereitschaft zur Rücksichtnahme, zur Einhaltung der Coronaregeln und zur Erduldung von Homeschooling und anderes. Gerade Elternhäuser und Lehrerinnen und Lehrer haben viel zusätzliches Engagement geleistet. Ich habe an vielen einzelnen Punkten erlebt oder erzählt bekommen, dass Menschen bereit waren, sich über bestimmte Regelungen hinwegzusetzen in einer solidarischen Weise, also nicht egoistisch. Z.B. als anfangs aus Unsicherheit alle Altenheime und Palliativstationen für Besucher geschlossen waren. Vielerorts haben einzelne Pflegende entschieden: Das lasse ich trotzdem zu, das nehme ich auf meine Kappe und haben Angehörigen den Zutritt ermöglicht. Sie haben damit die Barmherzigkeit gelebt, die aus der Regung des Herzens entstanden ist – und mit einem Risiko verbunden war.

baugerüst: Am Anfang der Coronakrise waren alle solidarisch mit den älteren Mitbürger*innen und Menschen mit Vorerkrankungen, um diese zu schützen – müssen die Älteren jetzt auch solidarisch sein mit der jungen Generation, die teilweise vergessen worden ist?

Däubler-Gmelin: Ich denke, dass junge Leute und insbesondere Kinder viel mehr Beachtung und Aufmerksamkeit brauchen, als bisher. Meine Enkel hatten es zum Glück nicht so schwer, weil ihre Eltern eine ausreichend große Wohnung mit Garten haben, weil sich jemand um die Kinder kümmern konnte, weil die Familie ausreichend mit digitalen Geräten ausgestattet sind und weil ihre Lehrerinnen und Lehrer sich große Mühe gegeben haben. Und die Eltern haben mit anderen Eltern Möglichkeiten gefunden, dass Kinder mit ihren Freunden gemeinsam spielen und lernen konnten. Aber wir wissen auch, dass bei vielen Kindern eines dieser notwendigen Elemente fehlte. Das führte dann zu den bekannten großen Schwierigkeiten, die jetzt durch Sonderförderung, Hilfe und besondere Angebote überwunden werden müssen. Gleichzeitig ärgert mich auch, dass jetzt Covid verstärkt in Schulen auftritt. Es ist sehr bedauerlich, dass wir in diesem Herbst mit Vorsorge, auch technischer Vorsorge, vor allem aber mit Achtsamkeit und differenzierter Hilfe für die Kinder nicht weiter sind.

Kober: Zunächst wurde der Blick sehr auf die Älteren und die vulnerablen Gruppen gelegt. Die Bedürfnisse der Jüngeren hat man nicht so in den Mittelpunkt gestellt, wie es angebracht gewesen wäre. Man war unsicher, man musste in einer Situation entscheiden, die man nicht kannte. Manche Maßnahmen hätte man früher ergreifen müssen – etwa die Ausstattung von Kindern aus benachteiligten Familien mit digitalen Endgeräten. Sie mussten sich teilweise durch die Sozialgerichte klagen. Man hätte früher sehen müssen, dass es eine zusätzliche Lernförderung für diese Kinder braucht, weil sie zuhause kein familiäres Umfeld haben, das Homeschooling unterstützen kann. Für viele bedürftige Kinder ist auch das Mittagessen weggefallen. Zudem stand als einziger Gesundheitsaspekt das Pandemiegeschehen im Fokus, die psychische Situation der Kinder und Jugendlichen wurde vernachlässigt. Mit Blick auf die Zukunft wäre wichtig, dass man Pandemiepolitik künftig ganzheitlicher, d.h. unter Berücksichtigung verschiedener gesundheitlicher, gesellschaftlicher Perspektiven entwickelt und nicht ausschließlich aus der Perspektive, den Virus und seine Verbreitungswege zu bekämpfen.........

Herta Däubler-Gmelin, Jahrgang 1943, ist SPD-Politikerin und Juristin. Sie war 1972 bis 2009 Mitglied des Deutschen Bundestages und von 1998 bis 2002 Bundesministerin der Justiz. Sie ist Schirmherrin des Deutschen Hospiz- und Palliativverbands.

Pascal Kober, Jahrgang 1971, ist evangelischer Theologe, Pfarrer der Evangelischen Landeskirche in Württemberg und seit 2017 Mitglied des Deutschen Bundestages. Zuvor war der sozialpolitische Sprecher der FDP-Fraktion Militärseelsorger der Bundeswehr. Mit ihnen sprachen Annika Falk-Claußen und Kerstin Sommer.

Mit ihnen sprachen Annika Falk-Claußen und Kerstin Sommer.

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