Interview mit Christoph Butterwege: "Menschen motivieren, sich gegen soziale Ungerechtigkeit zu wehren"

Ein Gespräch mit dem Politikwissenschaftler und Armutsforscher Christoph Butterwegge über Gerechtigkeit, die Probleme mit der Solidarität, den neuen Feudalismus und wie man mit Brecht doch noch etwas bewegen kann.

"Menschen motivieren, sich gegen soziale Ungerechtigkeit zu wehren"

Ein Gespräch mit dem Politikwissenschaftler und Armutsforscher Christoph Butterwegge über Gerechtigkeit, die Probleme mit der Solidarität, den neuen Feudalismus und wie man mit Brecht doch noch etwas bewegen kann.

baugerüst: Lange ist in Deutschland nicht mehr so viel über Gerechtigkeit gesprochen worden wie derzeit. Ist die Gerechtigkeit ein Modethema geworden?

Butterwegge: Das würde ich nicht sagen. Die soziale Zerklüftung der Gesellschaft ist jedoch mittlerweile so weit fortgeschritten, dass es sich aufdrängt, Ungleichheit und damit verbunden Gerechtigkeit zu thematisieren.

baugerüst: Warum gerade jetzt?

Butterwegge: Das Thema findet durch den Bundestagswahlkampf mehr öffentliche Beachtung. Begonnen hat die neuere Debatte darüber aber 2005 mit dem Inkrafttreten von Hartz IV. Dieses Gesetzespaket führte dazu, dass die Gesellschaft stärker auseinanderdriftete und sich in Arm und Reich spaltete.

baugerüst: Was unterscheidet Gerechtigkeit von sozialer Gerechtigkeit?

Butterwegge: Soziale Gerechtigkeit ist jene, die den sozialökonomischen Status und die gesellschaftliche Stellung der Mitglieder unterschiedlicher Bevölkerungsschichten betrifft. Es gibt noch andere Wirkungsebenen von Gerechtigkeit, etwa die der Geschlechter, von Ethnien, Religionsgemeinschaften oder Minderheiten, die schlecht behandelt oder diskriminiert werden. Bei der sozialen Gerechtigkeit geht es um die Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums und um den Lebensstandard großer Bevölkerungsgruppen.

baugerüst: Lässt sich soziale Gerechtigkeit überhaupt nationalstaatlich betrachten, oder muss nicht der Kontext einer globalen Gerechtigkeit einbezogen werden?

Butterwegge: Entwicklungsprozesse, die bei uns zu sozialen und politischen Verwerfungen führen, sind meist auch im globalen Maßstab wirksam. Von daher muss man Gerechtigkeit heute natürlich in einen globalen Rahmen stellen. Trotzdem ist Sozialpolitik fast ausschließlich im nationalstaatlichen Rahmen geregelt, also nicht einmal auf der EU-Ebene verankert.

baugerüst: Die Agenda 2010 delegierte die soziale Gerechtigkeit an den Markt. Ich-AGs und Start-up-Initiativen wurden gefördert, jede und jeder sollte etwas aus sich machen und die eigene Person optimieren. Solidarität war eher was für die „Loser“ in den Gewerkschaften.

Butterwegge: Ja, die Grundidee lautete: Wenn jeder an sich selber denkt, ist an alle gedacht. Seinerzeit zogen sich Staat und Gesellschaft aus der Verantwortung für sozial Benachteiligte zurück.

baugerüst: Das war dem neoliberalen Zeitgeist geschuldet.

Butterwegge: Der ist bis heute ausgesprochen wirkmächtig. Erst kürzlich haben Bundestag und -rat die Möglichkeit zur Privatisierung von Autobahnen und zum Bau von Schulen in öffentlich-privaten Partnerschaften geschaffen. Auch soll die betriebliche wie zuvor mit der Riester-Rente auch schon die private Altersvorsorge vom Staat subventioniert und noch stärker als bisher von Finanzmarktakteuren organisiert werden.

baugerüst: Ist der Begriff der Solidarität lange Zeit diskreditiert worden?

Butterwegge: Die neoliberale Propaganda hat es geschafft, den Solidaritätsbegriff als überholt, altmodisch und anachronistisch hinzustellen, genauso wie den Sozialstaat. In Wirklichkeit sind die Menschen im Rahmen der Globalisierung und der Digitalisierung eher noch mehr als früher auf Solidarität angewiesen. Gerade in einer Zeit, in der die Arbeitnehmer beruflich flexibel und geografisch mobil sein sollen, müssen sie mitsamt ihren Familien gegen Standardlebensrisiken, also Unfälle, schwere Krankheiten, Pflegebedürftigkeit, Erwerbslosigkeit und Altersarmut abgesichert werden.

baugerüst: Warum wird die Haltung der Solidarität so diffamiert? In den USA wollen gesunde Menschen nicht für die Krankheit anderer bezahlen und lehnen das Gesundheitssystem Obama-care ab. Hierzulande schaffen Versicherungen mehr Individualität durch immer mehr Risikoklassen und untergraben das Prinzip „Einer für alle, alle für einen“. Warum hat die Solidarität keinen guten Klang mehr?

Butterwegge: In einer Gesellschaft, die unter dem Einfluss des Neoliberalismus immer stärker ökonomisiert und kommerzialisiert wurde, zählen Eigennutz und Egoismus mehr als früher. Jeder strebt danach, möglichst billig an Produkte und Dienstleistungen zu kommen, und alles muss sich Konkurrenz-, Effizienz- und Leistungsgesetzen unterwerfen.

baugerüst: Das bedeutet dann das Ende der Solidarität?

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Weiterlesen in Heft 3/17​​​​​​v