Interview mit Dr. Michael Winterhoff: „Wir müssen Kinder wieder als Kinder sehen und erleben, ein Gespür für Kinder zu haben. “

Ein Gespräch mit dem Kinder und Jugendpsychiater Dr. Michael Winterhoff über den steigenden Druck auf Kinder und Eltern, die Bedeutung von digitalfreien Zonen und warum man öfter mal in den Wald gehen sollte.

„Wir müssen Kinder wieder als Kinder sehen und erleben, ein Gespür für Kinder zu haben.”

Ein Gespräch mit dem Kinder- und Jugendpsychiater Dr. Michael Winterhoff über den steigenden Druck auf Kinder und Eltern, die Bedeutung von digitalfreien Zonen und warum man öfter mal in den Wald gehen sollte.

baugerüst: Stehen Kinder und Jugendliche heute mehr unter Druck als vor 20 Jahren?

Michael Winterhoff: Entscheidend für mich ist die Feststellung, dass die Eltern enorm unter Druck sind. Vom Grundprinzip würde sich die Ruhe der Mutter aufs Kind übertragen und umgekehrt. Wenn die Eltern in Unruhe sind – und das sind leider viele Erwachsene in der heutigen Zeit –, dann überträgt sich die Unruhe. Und diese Unruhe haben die Kinder auch. Die Kinder, die ich erlebe, sind nicht in einem Erfolgsstress. Das waren Kinder vor vielen, vielen Jahren mal gewesen, weil sie sehr gut sein wollten. Ich habe eher mit Kindern zu tun, die auf Stufe von Kleinkindern stehen, die eher Anstrengungen meiden. Die strahlen aber dennoch eine Unruhe aus.

baugerüst: Der Druck wird also von den Eltern übertragen. Stehen die Eltern heute mehr unter Druck?

Winterhoff: Wenn man sich das Stadtbild anguckt, hat sich der Erwachsene stark verändert. 1990/95 haben Sie in der Stadt überwiegend entspannte Menschen angetroffen, die ruhten in sich, waren viel zufriedener als die Menschen heute. Sie hatten ein Gespür für sich, für andere und damit auch für Kinder. Damals hätte man sich in der Stadt viel mehr gegrüßt, man wäre nicht umgerannt worden, was Ihnen heute durchaus passieren kann. Wenn damals ein Zwölfjähriger an einer Zigarette gezogen hätte, hätte keiner nachgedacht und gesagt: „Steck das Ding weg!” Wenn Sie heute in die Stadt gehen und in die Gesichter sehen: gehetzt, gereizt, depressiv oder im Handy drin. Wenn Sie jemanden finden, der strahlt und grüßt, denken Sie schon: „Der hat Drogen genommen.” Das heißt, alle Erwachsenen haben sich verändert. Die meisten Menschen wachen morgens auf und schon rattert der Kopf: „Ich muss daran und daran denken.” Sie sind in der einen Situation gedanklich schon in der nächsten, übernächsten. Mittwochs macht man sich Gedanken, was man mit dem freien Samstag anfängt. Letztendlich sind sie immer on. Wenn Sie hier in den Stadtwald gehen und treffen einen Jogger, hat der Musik auf den Ohren. Immerzu on. Dass jemand im Wald einfach spazieren geht und die Ruhe genießt, das ist zur Ausnahme geworden.

baugerüst: In Ihrem aktuellen Buch kritisieren Sie die Bildungspolitik. Hat in der Schule der Druck zugenommen, auch weil Eltern und Kindern suggeriert wird, dass die Kinder unbedingt aufs Gymnasium gehen müssen?

Winterhoff: Es gibt zwei Gruppen von Eltern: Eltern, die sich kaum um die Kinder kümmern, da ist vieles egal und Eltern, die sich übertrieben kümmern, die somit auch enorm unter Druck stehen, dass aus ihrem Kind etwas wird. Eigentlich kommen die meisten Erwachsenen eigentlich nicht mehr zurecht. Wir leben nicht in einer Katastrophe. Aber bei den meisten Erwachsenen ist die Psyche eingestellt wie in einer Katastrophe. Sie laufen angstgesteuert rum. Kinder sind immer das schwächste Glied in einer Gesellschaft. Wenn den Erwachsenen etwas fehlt, dann ist die Gefahr groß, dass Kinder unbewusst ausgleicht. Tragischerweise rutschen heute immer mehr Eltern in die Beziehungsstörung der Symbiose.

baugerüst: Wie kann man sich das vorstellen?

Winterhoff: Kinder werden psychisch gesehen wie ein Teil der Psyche der Eltern. Um die Auswirkungen zu verbildlichen, wird jetzt das Kind quasi wie der eigene Arm, dann will ich, dass mein Arm fit ist und gesund bleibt. Wenn ich selbst Angst habe vor der Zukunft, dann muss mein Arm für die Zukunft gesichert sein. Dadurch entsteht unter anderem ein Druck bezogen auf Schule. Viele Punkte haben zu einer großen Verunsicherung bei den Eltern geführt: die Veränderung der Schulformen mit der Abschaffung der Hauptschule, die Veränderung der Unterrichtsform mit der politischen Forderung nach „offenem Unterricht“ mit der Vorstellung, das Kind ist auf sich gestellt und soll möglichst sich selbst das Wissen erarbeiteten, die Einführung einer nicht durchdachten Inklusion – in Wirklichkeit ein Kostensparmodell– sowie die stetige Absenkung des Leistungsniveaus. In der Folge ist bei engagierten Eltern der Wunsch nach einer Schule mit traditionelleren und bewährten Unterrichtsformen viel größer geworden. Das bietet häufig nur noch ein Gymnasium. Außerdem wird den Eltern seit vielen Jahren suggeriert, dass einem mit dem Abitur die Türen offen stehen, da man politisch will, dass möglichst viele Abitur machen. Das liegt daran, dass wir falsch verglichen werden. Wir sind ein Land, das mittelständische Unternehmen sowie eine Form von Ausbildung im handwerklichen und kaufmännischen Bereich hat, wo man eine Lehre und eine schulische Ausbildung zusätzlich macht. Das gibt es so im Ausland nicht. Viele Berufe, die Lehrberufe sind, sind im Ausland Studiengänge. Man sieht nicht, dass wir den Reichtum, den wir an Ausbildungsberufen haben, damit verbauen, indem alle Abitur machen sollen.

...............

Bestellen Sie das bg 2/20 hier.

Foto: Peter Wirtz