Interview mit Ilona Schuhmacher, Jens Adam und Michael Götz: „Corona hat uns von der babylonischen Keilschrift in die Nähe einer digitalen Kultur gebracht.“

Ein Gespräch mit Ilona Schuhmacher, Jens Adam und Michael Götz über die Herausforderungen für christliche Kinder- und Jugendarbeit während der Coronapandemie, daraus entstandene Chancen und warum sie nicht von einer „verlorenen Generation“ sprechen wollen.

baugerüst: Ein Jahr mit Covid-19 – wie fühlten sich die ersten Wochen des ersten Lockdowns an, woran erinnert ihr Euch besonders?

Michael Götz: Es hatte sich ja Wochen vorher angebahnt. Bei der Hauptberuflichen- Konferenz der Evangelischen Jugend in Bayern Ende Februar war es schon großes Thema, aber es herrschte noch Normalität. Bis 15. März hatten wir eine Tagung mit 120 Teilnehmern dem kreativ begegnet. Ab 16. März hast Du in Deinen Terminkalender geguckt und für die ersten Wochen war klar, dass alles abgesagt ist. Mit jedem Termin war eine Erwartung verbunden, also führten die Absagen zu viel Enttäuschung. Es wurde viel in den virtuellen Raum verlegt und es gab viel Beratungsbedarf. Das war erstmal richtig viel mehr Arbeit. In den ersten Wochen ist man vom Telefon und aus Zoom-Konferenzen nicht mehr weggekommen.

Ilona Schuhmacher: Bei mir war das etwas anders. Im Rückblick muss ich sagen, dass ich null damit gerechnet habe, dass wir damit mehr als ein Jahr beschäftigt sind. Meine erste Reaktion war: „Jetzt schnaufen wir halt mal durch und legen dann nach Ostern wieder richtig los!“ Ich habe es als eine Bedrohung ernst genommen, aber nicht ernst genommen im Sinne dessen, wie es sich jetzt entwickelt hat. An den ersten Lockdown bin ich etwas blauäugig ran. Als langsam durchsickerte, was das für Jugendarbeit bedeutet, waren wir ein wenig in einer Schockstarre. Wenn ich wir sage, meine ich die ejb und den Bayerischen Jugendring.

baugerüst: Michael, ging es Dir auch so, dass Du dachtest, die Lage wird sich nach ein paar Wochen wieder normalisieren?

Götz: Ja, und es war gut, dass ich zu der Zeit kein Bundeskanzler war. Denn ich fand eher den Kurs von Boris Johnson und den der Schweden gut. Ich dachte, die seien auf dem richtigen Weg! Nach drei, vier Wochen habe ich aber bemerkt, dass es nicht der richtige Weg war. Durch unsere China-Partnerschaft kenne ich auch den YMCA in Wuhan. Ich war ein Jahr zuvor noch dort, sogar auf diesem Tiermarkt. Es war für mich so absurd, dass aus dieser Stadt, in der ich Leute kenne, so etwas ausgelöst wird.

Schuhmacher: Das Schwierige war zu begreifen, dass es eine weltweite Pandemie ist. Das hat gedauert, bis ich das in all seinen Facetten begriffen habe.

Jens Adam: Für mich war in den ersten Zeiten viel ungeklärt. Es war viel Hektik drin, man musste einen Plan B überlegen. Es waren viele Sorgen dabei. Für mich war am krassesten die Wahrnehmung, dass der evangelische Oberkirchenrat in Baden Anfang April gesagt hat, dass davon ausgegangen wird, dass das bis Dezember geht. Das konnte ich mir zu dieser Zeit nicht vorstellen.

baugerüst: Vieles wurde dann ziemlich schnell in den digitalen Raum verlagert. Woran haperte es da anfangs?

Schuhmacher: Bei uns fehlte anfangs das Equipment, die richtige Ausstattung. Jugendarbeit in Bayern hat – rückblickend betrachtet – gewohnt flexibel, spontan und mit allen Kräften auf die Herausforderungen reagiert. Es hat uns nicht an Ideen und Willen gefehlt, sondern das Thema Digitalisierung war im kirchlichen Kontext noch nicht so ausgereift, dass wir vorbereitet waren auf so eine Umstellung. Was man positiv sagen muss: Es hat schnell Fahrt aufgenommen und es ist gelungen, sowohl politisch, als auch kirchenpolitisch mit finanziellen Ressourcen nachzurüsten.

baugerüst: Wie war das im CVJM?

Götz: Es hat sich herauskristallisiert, dass die Vereine, die vorher schon nah an den Jugendlichen waren, ganz gut klar kamen. Für die Jugendlichen als „Digital Natives“ ist es keine andere Realität, für sie ist es eine Realität. Wir sprechen von Präsenz und Nicht- Präsenz, für sie ist alles Präsenz. Sie haben total schnell umgeschaltet, viel schneller als die Verantwortlichen. Es hat bei uns auch Ausrüstung gefehlt. Ich habe zig Bildschirme bestellt, damit die Leute einen zweiten Bildschirm für Konferenzen hatten. Am Anfang musste man bei Videokonferenzen Regeln rausgeben, weil z.B. immer einer geredet hat, ohne das Mikrofon eingeschaltet zu haben. Es hat gedauert, bis man in die Besprechungen eine Kultur reinbekommen hat. Es gab vorher immer mal Video- oder Telefonkonferenzen, aber die waren sehr rudimentär. Und dann hatte man sie jeden Tag Stunden lang. Innerhalb von sechs bis acht Wochen war es eine selbstverständliche Kultur, die man gelernt hatte.

Adam: Corona hätte ich ganz sicher nicht gebraucht. Aber es hat uns kirchlich von der babylonischen Keilschrift in die Nähe einer digitalen Kultur gebracht. Auf die babylonische Keilschrift waren wir immer sehr stolz, aber dass es da eine Welt gibt, die mit Computern und Digitalisierung zu tun hat und die eine Menge mit dem Leben unserer Kinder und Jugendlichen zu tun hat, war in kirchlichen Gremien nur bedingt praktisch vorhanden. Ich glaube, wir wurden durch Corona in etwas hineingestoßen, was sonst nie geschehen wäre – in ganz praktischen Bezügen, z.B. Hardware-Ausstattung. Ich brauche einen Computer, der eine Kamera hat, wo das Mikrofon funktioniert. Dazu brauche ich eine flotte Internetverbindung – nicht immer einfach und sicher im tiefen Bayerischen Wald ein ähnliches Problem wie im tiefen Schwarzwald. Da tun sich Beteiligungsfragen auf. Das hat uns enorm gepusht. Das hätten wir mit allen Bemühungen, die vorher schon da waren, sonst nie in einem so kurzen Zeitraum realisieren können. Jetzt haben wir es realisieren müssen.

baugerüst: Als nach dem ersten Lockdown über Lockerungen diskutiert worden ist, hatte man das Gefühl, Kinder und Jugendliche wurden bei den Überlegungen vergessen. Warum war das so?

Adam: Ich glaube nicht, dass das stimmt. Ja, sie wurden in bestimmter Hinsicht vergessen. Die aej hat dazu ein Papier herausgegeben, auch im CVJM wurde das diskutiert. Wir waren in positivem Sinne Lobbyisten. Am Anfang musste man sich erstmal um die Sterbenden in den Krankenhäusern kümmern, das war verständlich. Die Fragestellung hat sich verändert, als der Zeitraum länger wurde. Die Frage nach psychischer und sozialer Gesundheit wurde virulenter. Ich glaube aber nicht, dass die Kinder und Jugendlichen vergessen worden sind, zumindest höre ich das von unseren Mitarbeitenden. Bei uns hat der Landesjugendring immer hart gerungen, vor allem mit der Frage, was passiert mit den Freizeiten? Das war für uns bis zum Sommer ein wichtiger Punkt. Von unserer Innensicht habe ich immer ein großes Engagement wahrgenommen, die Kinder und Jugendlichen in den Beziehungsgeflechten, die sie haben, weiter zu begleiten.

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Jens Adam, Jahrgang 1969, ist Landesjugendpfarrer der Evangelichen Landeskirche in Baden.
Ilona Schuhmacher, Jahrgang 1977, ist Referentin für Grundsatzfragen und Jugendpolitik bei der Evangelischen Jugend in Bayern (ejb) und Vize-Präsidentin des Bayerischen Jugendrings.
Michael Götz, Jahrgang 1967, ist Generalsektretär des CVJMLandesverbandes Bayern.

Mit ihnen sprach Annika Falk-Claußen.

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