Interview mit Prof. Friedrich Schweitzer: „Man kann sagen, dass Kinder religiös begabte Wesen sind."

Ein Gespräch mit dem Tübinger Theologieprofessor Dr. Dr. h.c. Friedrich Schweitzer über das Recht der Kinder auf Religion, die herausforderung für pädagogische Fachkräfte durch wachsende religiöde Vielfalt und Veränderung im Familienleben.

„Man kann sagen, dass Kinder religiös begabte Wesen sind."

Ein Gespräch mit dem Tübinger Theologieprofessor Dr. Dr. h.c. Friedrich Schweitzer über das Recht der Kinder auf Religion, die herausforderung für pädagogische Fachkräfte durch wachsende religiöde Vielfalt und Veränderung im Familienleben.

baugerüst: Was verstehen Sie unter Religion?

Friedrich Schweitzer:  Die Frage nach Religion ist eine der schwierigsten Fragen, die man überhaupt stellen kann. Man kann sie nicht abschließend beantworten, und die Wissenschaft hat aufgehört, Definitionen zu produzieren. Ich selber arbeite mit einer sogenannten funktionalen, sehr offenen, weiten Zugriffsweise auf Religion. Ich gehe von der Frage aus, was die letzten Werte, Orientierungen oder Überzeugungen von Menschen sind, die deshalb auch auch als religiös oder weltanschaulich angesprochen werden können. Zugleich gehe ich davon aus, dass ein funktionaler Religionsbegriff allein nicht ausreicht, weshalb ich auch mit einem inhaltlich bestimmten Religionsbegriff – in der Fachsprache substanziell – arbeite. Entscheidend sind dabei  die klassischen Bezüge, insbesondere der Bezug auf Gott, im Unterschied zu Weltanschauungen. Aber ich finde, in der Arbeit mit Kindern muss man gar nicht so abstrakte Definitionen haben. Im Umgang mit Kindern klärt sich das ganz schnell. Ich selber gehe in meiner Arbeit von den Kindern aus. Kinder haben große Fragen, die beziehen sich manchmal direkt auf Gott und häufiger noch darauf, was nach dem Tod geschieht, ob es einen Himmel gibt, wo wir danach hingehen. Man ist ganz schnell bei Fragen, wo kaum ein Zweifel besteht, dass es religiöse Fragen sind. 

baugerüst: Könnte man den Titel Ihres Buches umformulieren in „Kinder haben ein Recht auf Gott“? 

Schweitzer:  Das scheint mir zu eng zu sein, weil man etwa Buddhisten, die ja keine Gottesvorstellung haben, sich aber zum Teil im Sinne einer Religion verstehen, ausschließen würde. Ich habe, als ich mit der Arbeit angefangen habe, zunächst an christliche Kinder gedacht – an die Kinder, die bei uns aufwachsen. Aber inzwischen ist natürlich der Blick zu weiten, vor allem auch auf muslimische und jüdische Kinder. Zu denken ist aber eben auch an andere Kinder, wie in Hamburg beispielsweise, wo eine buddhistische Religionsgemeinschaft mit Recht darauf pocht, offiziell anerkannt zu werden. Dann liegt es nahe zu sagen: Wenn ihr vom Recht des Kindes sprecht, dann könnt ihr nicht bestimmte Kinder ausschließen. Das leuchtet aus evangelischer Sicht ein. Es geht nicht darum, dass wir alle Kinder zum evangelischen Glauben missionieren wollten oder sagen, das sei die einzige Religion, die wir für Kinder anerkennen. Wenn wir für das Recht christlicher Kinder eintreten, treten wir selbstverständlich auch für das Recht aller Kinder ein. Insofern wäre die Formulierung „Recht auf Gott“ doch zu eng. 

baugerüst: Und wer gibt den Kindern das Recht auf Religion? 

Schweitzer:   Rechte entstehen aus zwei Quellen. Es gibt Rechte, die durch Übereinkünfte entstehen, das machen bei uns meistens die Parlamente. Oder es gibt internationale Körperschaften im weitesten Sinne, die Rechte setzen, wie die Vereinten Nationen beispielsweise. Am Anfang hatte ich aber mehr ein pädagogisches Verständnis im Sinn wie Janusz Korczak und seine Zeitgenossen, die vom Recht des Kindes auf Achtung gesprochen haben. So habe ich vom Recht auf Religion gesprochen. Korczak wollte damit einfach sagen: Kinder haben ein Recht darauf, was sie zu einem gesunden Leben und Aufwachsen brauchen. Im Herbst feiern wir 30 Jahre Kinderrechtskonvention, die zumindest ansatzweise ein Recht der Kinder auf Religion kennt, dies allerdings aus meiner Sicht nicht deutlich genug zum Ausdruck bringt. Es gibt aber andere Formulierungen und Verlautbarungen der Vereinten Nationen, in denen tatsächlich die Rede davon ist, dass Kinder ein Recht auf Zugang zu einer religiösen Erziehung und Bildung haben. Bei der Kinderrechtskonvention hat man erstmals Religionsfreiheit auch für Kinder garantiert, doch dann ist die Frage aufgetaucht, wie sich das zum Erziehungsrecht der Eltern verhält. Wenn die Kinder Religionsfreiheit haben, dürfen sie alles selber entscheiden, und das ist in manchen Staaten nicht akzeptiert worden. Deshalb wurde am Ende eine ausgleichende Formulierung gefunden worden: „Die Kinder haben Religionsfreiheit und die Eltern leiten sie dabei.“ Ein Kompromiss, wie man sehen kann. 

baugerüst: Sie haben geschrieben, dass Kinder von Religion profitieren, aber auch das Gegenteil der Fall sein kann. Warum?

Schweitzer:  Man weiß heute ziemlich viel darüber, dass Kinder besonders früherer Generationen unter einer einengenden religiösen Erziehung zu leiden hatten, dass strafende Gottesbilder eingesetzt wurden, um Kinder einzuschüchtern und um ihren Gehorsam zu festigen. Und dass daraus dann oft lebenslang belastende Neurosen entstanden sind. Deshalb ist man heute sehr sensibel. Man kann nicht für das Recht des Kindes auf etwas eintreten, was die Kinder letztlich schädigt. Wenn man vom Recht des Kindes auf Religion spricht, wie ich das tue, dann ist damit automatisch eine die Kinder fördernde, unterstützende Form von Religion gemeint. Das Christentum hat eine sehr positive Einstellung zu Kindern, und die späteren Entwicklungen sind aus meiner Sicht Fehlentwicklungen gewesen, die sich beispielsweise nicht auf die Bibel berufen können. 
Aber es gibt natürlich sowohl im Christentum Entwicklungen, die ich als für Kinder abträglich empfinde, wie auch in anderen Religionen. Für eine breite Diskussion sorgte etwa die Frage nach sogenannten Sekten, etwa im Blick auf Kinder von Scientologen oder Kinder in anderen sehr strengen religiösen Gruppen. Dazu gehört auch, dass Kinder in manchen christlichen Gemeinschaften nicht geimpft werden, dass sie keine Bluttransfusionen erhalten dürfen, selbst wenn sie sterben. Wieder andere lassen nicht zu, dass Kinder zur Schule gehen. Das sind alles Formen von Religion, die hier nicht gemeint sein können. 

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Foto: Annika Falk-Claußen