Interview mit Thai An Vu und Lennart Potz: „Die Stigmatisierung von Männer- und Frauenberufen ist nicht mehr zeitgemäß.“

Ein Gespräch mit Informatikerin Thai An Vu und Heil- und Erziehungspfleger Lennart Potz über typische Frauen- und Männerberufe, Stereotype, Klischees und was passieren müsste, damit Kinder und Jugendliche für alle Berufsfelder offen bleiben.

„Die Stigmatisierung von Männer- und Frauenberufen ist nicht mehr zeitgemäß.“

Ein Gespräch mit Informatikerin Thai An Vu und Heil- und Erziehungspfleger Lennart Potz über typische Frauen- und Männerberufe, Stereotype, Klischees und was passieren müsste, damit Kinder und Jugendliche für alle Berufsfelder offen bleiben.

baugerüst: Warum habt ihr persönlich Euch für Eure Berufe entschieden?

Lennart Potz: Ich durfte meiner Schwester bei der Arbeit in diesem Bereich einen Tag lang zugucken, fühlte mich super aufgenommen von der Kollegschaft. Dann habe ich den Entschluss gefasst, nach dem Abitur ein FSJ zu machen. Erst dachte ich, ich m.chte mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen arbeiten – in Richtung Streetworker oder Jugendzentrum. Über Freunde bin ich ins Stift Tillbeck gekommen und habe hier mein FSJ und meine Ausbildung gemacht. Für diesen Beruf habe ich mich entschieden, weil ich denke, dass es wichtig ist, dass man einen Gegenwert für seine Arbeit hat.

Thai An Vu: Ich bewundere das! Ich habe w.hrend der Schulzeit ein Praktikum in einer Behindertenwerkstatt in Stuttgart gemacht. Das waren zwei tolle Wochen.

baugerüst: Warum hast Du Dich dann doch entschieden, mehr mit Computern und Zahlen als mit Menschen zu arbeiten?

Thai An Vu: Das war keine bewusste Entscheidung. Ich hatte nach dem Abi nicht gewusst, was ich machen will und dachte, mit Wirtschaftsinformatik kann man alles Mögliche machen. Ich brauchte mehr Zeit, um mich selbst zu orientieren. Ich war damals ehrenamtlich sehr aktiv in der Kirche gewesen und hätte mir auch vorstellen können, etwas Soziales zu studieren. Ein bisschen hat letztlich das Gehalt eine Rolle gespielt.

baugerüst: Habt ihr die Entscheidung irgendwann mal bereut?

Lennart Potz: Bei mir im Prinzip bei jedem Spät- und Frühwechsel, wenn ich abends bis 21 Uhr arbeite und morgens ab 6 Uhr wieder auf der Matte stehen muss. Aber sonst bin ich mit meiner Entscheidung super zufrieden.

Thai An Vu: Ich habe in den ersten Jahren überlegt, ob ich nochmal neu anfangen soll. Ich bin unter meinen Freundinnen die einzige, die einen technischen Beruf hat. Wenn ich hörte, dass meine Freundinnen in der Kita, in Schulen oder Kirchen arbeiten, war ich anfangs etwas neidisch, weil sie das beruflich machen, was ich in meiner Freizeit noch so rein quetsche. Ich habe deren Arbeit als sinn- und wertvoller empfunden als meine eigene Arbeit. Ich habe ein paar Jahre gebraucht, um in meiner Arbeit den Sinn zu erkennen.

baugerüst: Wie ist die Zusammensetzung Männer/Frauen in Eurem beruflichen Umfeld?

Thai An Vu: Die Frauenquote bei uns ist extrem niedrig. Bei den IT-lern kommen auf etwa zehn Männer eine Frau.

Lennart Potz: Bei mir ist das eigentlich recht ausgewogen. Bei uns teilt es sich bei den Bereichen, wo es um verhaltensauffällige Leute geht, also Menschen, die fremdaggressiv werden, die Autoaggression zeigen. In solchen Feldern sieht man häufiger auch Männer. Und in den eher pflegeintensiveren Bereichen arbeiten verstärkt Frauen.

baugerüst: Wie behauptet man sich in einem typischen Männerberuf als Frau oder einem vermeintlich typischen Frauenberuf als Mann?

Lennart Potz: Ich hatte nie das Gefühl, mich behaupten zu müssen. Es gibt eher Momente, die klischeebehaftet sind. Ganz am Anfang meiner Ausbildung habe ich mal die Spülmaschine einger.umt und fünf Minuten später kam meine Kollegin und sagte: „Das üben wir nochmal, das habe ich jetzt nochmal gemacht.” Sie war wohl einfach mit meiner Technik nicht zufrieden. Bei uns ist es sonst eher so, dass jede Persönlichkeit sein Fachgebiet mit einbringt – unabhängig vom Geschlecht.

Thai An Vu: Bei uns setzt sich die Person durch, die das beste Fachwissen mitbringt. Es hat viel mit Tempo zu tun, weil sich Technologien sehr schnell .ndern und man für neue Themen offen bleiben und sich immer wieder neu reindenken muss. Es kommt also mehr auf die Fachkompetenz an. Was man zudem hobbymäßig macht, kommt auch der Arbeit zugute. Ich bin durch meine Jugendarbeit zum Beispiel anders gepolt in der Kommunikation. Ich merke, dass in der IT tendenziell technischer kommuniziert wird. Darin sehe ich meine St.rke. Aber das liegt nicht unbedingt daran, dass ich eine Frau bin und die anderen Männer. Ich habe mal mit HR (Anmerkung der Redaktion: Human Resources/Personalwesen) zusammengearbeitet und gemerkt, dass es dort komplett anders ist. In der Pause setzen sich die Damen zusammen, teilen das mitgebrachte Essen miteinander und tauschen Rezepte aus. Sowas haben wir bei uns in der IT nicht. Ich vermisse es nicht, aber ich merke, dass das Miteinander anders ist. 

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