Interview mit Werner Thole: „Die Jugendverbandsarbeit wird nicht verschwinden“

Ein Gespräch mit Professor Werner Thole über die Situation der Jugendverbandsarbeit und die zukünftigen Herausforderungen der außerschulischen Bildung.

„Die Jugendverbandsarbeit wird nicht verschwinden“

Ein Gespräch mit Professor Werner Thole über die Situation der Jugendverbandsarbeit und die zukünftigen Herausforderungen der außerschulischen Bildung

baugerüst: Warum wird das Thema Jugendverband gerade jetzt so heftig diskutiert, auch intern? Steht Jugendarbeit unter einem Rechtfertigungsdruck?

Thole: Es gibt derzeit bei den Kirchen, aber auch bei Wohlfahrts- oder  Sportverbänden eine neue Aufmerksamkeit für Kindheit und Jugend. Die öffentliche Wahrnehmung der Jugendverbandsarbeit, die seit Jahrzehnten ja eine Arbeit mit Kindern und Jugendlichen ist, erlebt in den Verbänden selber aber auch in den jeweiligen Erwachsenenorganisationen  gegenwärtig in der Tat eine Renaissance. Der demographische Wandel hat die Zukunftsfähigkeit der Gesellschaft auf die Agenda gesetzt, die Gesellschaft befürchtet ihre nachwachsende Generation zu verlieren und die Verbände registrieren, dass die Heranwachsenden nicht mehr automatisch den Weg zu den Jugendverbänden finden.

baugerüst: Trotzdem steht die Verbandsarbeit doch unter einem Rechtfertigungsdruck.

Thole: Das ist quasi die andere Seite der zuvor genannten Entwicklung. Die öffentliche Wahrnehmung der Jugendverbandsarbeit, überhaupt von Organisationsformen der pädagogischen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen ist seit Jahrzehnten nicht herausragend. In den öffentlichen Diskussionen spielt die Jugendverbandsarbeit keine bedeutende Rolle. Es herrscht die Meinung vor, Jugendliche organisieren sich ja doch nicht, haben kein großes Interesse an direkten Begegnungen in Gruppen und alle intergenerativen Interaktionen verlagern sich in die medialen Netzwerke.

baugerüst: Diese Wahrnehmung ist öfters zu hören.

Thole: Aber dadurch, dass sie wiederkehrend zu hören ist, wird sie nicht zutreffender. Betrachtet man die entsprechenden Studien, so lässt sich feststellen, dass ein Großteil der Kinder, der jüngeren Jugendlichen und sogar der Jugendlichen bis in das zweite Lebensjahrzehnt hinein in irgendeiner Form sich auch organisieren. Alle vorliegenden Studien - auch die aktuelleren -  zeigen, dass um die 80 Prozent aller Kinder und Jugendlichen sich weiterhin einer vom Wir-Gefühl geprägten Gleichaltrigen-gruppe zugehörig fühlen. Und laut Selbstauskunft sind über 60 Prozent der Heranwachsenden Mitglieder in Vereinen und Verbänden. Sicherlich, die Mehrzahl ist in Sportvereinen organisiert, aber insgesamt ist der Organisationsgrad wesentlich höher als gesellschaftlich wahrgenommen wird.
baugerüst: Also kein Bedeutungsverlust?

Thole: Schaut man sich die Zahlen an, dann ist erst einmal festzustellen, dass die verbandlichen Angebote und auch die Nachfrage seitens der Kinder und Jugendlichen insgesamt nicht wesentlich zurückgegangen sind. Welche Bedeutung diese Angebote für die Heranwachsenden selber haben, ist eine ganz andere Frage. Leider gibt es nicht sehr viele Studien, die etwas zur Bedeutung der Jugendverbandsarbeit aussagen. Aus den vorhandenen Befragungen lässt sich aber die These belegen, dass die Bedeutung von Aktivitäten in einem Jugendverband für die Biografie von Kindern und Jugendlichen und für die Gestaltung des eigenen Lebens an Relevanz verloren hat.

baugerüst: Das heißt, die gesellschaftliche Bedeutung von Jugendverbandsarbeit hat abgenommen.

Thole: Erstens hat die biografische Bedeutung eines Engagements im Jugendverband abgenommen und zweitens die Bedeutung der Jugendverbandsarbeit insofern, als dass sie als wesentlicher Akteur der Artikulation von Interessen von Kindern und Jugendlichen gesellschaftlich und politisch nicht mehr adressiert wird, auch weil die Jugendverbandsarbeit im öffentlichen Raum durchgängig kaum noch präsent ist. Und das dies so ist, dafür sind auch gesellschaftliche Entwicklungen verantwortlich. Wir sind schon seit einiger Zeit mit einer gesellschaftlichen Entwicklung konfrontiert, bei der zentrale Bezugspunkte der kulturellen und sozialen Orientierung sich massiv verändern. Die Bedingungen über die Sozialisation in einem stabilen Herkunftsmilieu in ein vorgegebenes Werte-, Normen- und Kultursystem mit festen Regeln und Ritualen hineinzuwachsen sind implodiert. Das hat natürlich auch enorme Folgen für Organisationen, bei denen konsensuale Werte zur institutionellen Verfasstheit gehören.

baugerüst: Jugendverbände werden also nicht mehr unbedingt als die Werkstätten der Demokratie gesehen?

Thole: Ja, vielleicht kann das so formuliert werden. Nach 1945 waren die Jugendverbände als Orte auch der Herstellung von Demokratie stark gefordert, da sie sich gegenüber dem Nationalsozialismus kritisch artikulierten, auch wenn wir heute wissen, dass viele Jugendverbände diese kritische Haltung zwischen den Jahren 1933 und 1945 nicht zeigten, sich nicht nur anpassten, sondern in die Spur der nationalsozialistischen Ideologie einschwenkten und dadurch eine gesellschaftliche Aufwertung erfuhren.

baugerüst: Weil der Nationalsozialismus die Jugend gewinnen konnte?

Thole: Blicken wir kurz zurück auf das Jahrzehnt vor der nationalsozialistischen Machtübernahme. Die zwanziger Jahre des letzten Jahrhunderts waren ein Zeitalter der Jugend und des Aufbruchs. Jugend als Generationsphase wurde glorifiziert. Ernst Bloch beispielsweise sah in der Jugend das Zukünftige und die Hoffnung, andere entdeckten in der Jugend das noch nicht Gegenwärtige. Aber auch die Nationalsozialisten griffen das auf und glorifizierten die Jugend. Der Satz „Heute marschieren wir, morgen regieren wir“ dokumentiert dies. In der Zeit nach 1945, insbesondere dann in den 1950er Jahren knüpften die Jugendverbände an dieser Haltung aus den 20er Jahren wieder an. Ihre Politik war bestimmt von der Haltung, was damals Jugend wollte, Teilhabe am demokratischen Prozess, das ist nun in der neuen Gesellschaft nur mit uns möglich. Die Jugendverbände nahmen für sich in Anspruch und wurden auch gesellschaftlich so angesprochen, das Sprachrohr der Jugend zu sein. Jugendverbände artikulierten sich als die institutionelle Gestalt der Jugend, die nach Demokratie strebt.

baugerüst: Unterstützt wurden sie von den Alliierten, die darin einen Beitrag zum Aufbau der Demokratie sahen.

Thole: Ja, die omnipotente Idee der Jugendverbände, für die gesamte Jugend zu sprechen und sie auch zu präsentieren, paarte sich anfänglich mit den Hoffnungen der Alliierten, zumindest bis Ende der 1950er Jahre. Wie trügerisch diese Hoffnung war, zeigte sich dann mit den neuen informellen Jugendgruppen, den Halbstarkencliquen und den Existentialisten, später dann in den Lehrlingsbewegungen, den studentischen Protestbewegungen. Wiederum eine Jugendgeneration später, zu Beginn der 1970er Jahre, fand diese Stimmung, nicht nur Objekt von Verbänden, sondern Subjekt einer Idee zu sein, in der Bewegung für unabhängige Jugendzentren ein wahrnehmbares Aktivitätsfeld. Diese Bewegung war auch eine Reaktion auf die Haltung der Jugendverbände, die immer noch meinten, sie sprächen für alle Jugendlichen.
 

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Weiterlesen im Heft 2/16