Irena Berger: Was fasziniert an Helden?

Allein in Deutschland mögen 12,5 Millionen Menschen innerlich gejubelt haben, als sie auf der Kinoleinwand miterlebten, wie Harry Potter endlich die verhasste Adoptiv-Familie verlassen und ins Zauberinternat Hogwarts umziehen durfte. Eine ähnliche Gänsehaut dürfte auch Star Wars-Fans über den Rücken gelaufen sein, als der auf die dunkle Seite geratene Darth Vader sich auf seinen Ursprung besann und, um den Preis des eigenen Lebens, seinen Sohn rettete, um damit letztlich das diktatorische Imperium zu stürzen.

Dass diese und ähnliche Filme Millionen von Zuschauern in die Kinosäle zog, zeigt nur zu deutlich die unglaubliche Faszination, die von modernen Helden wie Harry Potter, Luke Skywalker, Frodo & Co. ausgeht.

Aber was ist es eigentlich, das uns an ihnen so fasziniert? Was macht diese Magie aus, die uns dazu bewegt, manchmal einen Roman von über tausend Seiten in wenigen Tagen zu verschlingen weil wir, mit dem Schicksal der Hauptfigur mitfiebernd, es einfach nicht aus der Hand legen können?
Jeder, der gern Bücher liest, hat dieses suchtartige Verlangen wahrscheinlich schon einmal erlebt. Ein gutes Buch mit sympathischen Protagonisten und einer spannenden Geschichte kann für die leidenschaftliche Leseratte zu einer regelrechten Parallelwelt werden, in die man abtauchen und die Abenteuer des Helden miterleben, seine Freude und Angst teilen, seine Trauer und Enttäuschungen mitfühlen und ihn, wenn er zuletzt siegreich aus der Schlacht hervorgegangen ist, jubelnd bewundern kann.

Die Heldenfiguren aus Film und Büchern sind nicht nur zahlreich, sondern könnten auch unterschiedlicher kaum sein. Und das gilt nicht nur für die modernen Helden unserer Zeit. Denken wir an Bastian Balthasar Bux, König Artus oder gar an Jesus von Nazareth, merken wir schnell, dass das Heldenbild und der damit verbundene Mythos so alt sind wie die Menschheit selbst.

Trotz aller Unterschiede in ihren Charakteren, ihren Fähigkeiten, Aufgaben und der Welt, in der sie wirken, scheint es doch auf einer tieferen Ebene etwas zu geben, das all diese Helden verbindet. Etwas, das uns auf einer anderen, unbewussten Ebene anzusprechen und manchmal wie magisch anzuziehen scheint.

Die Heldenreise

Für den amerikanischen Literaturwissenschaftler und Mythenforscher Joseph Campbell wurde es zur Lebensaufgabe, eben dieser tieferen Gemeinsamkeit auf den Grund zu gehen. Campbell starb bereits 1987, ist aber bis heute vor allem in den USA sehr bekannt und einflussreich. In seinem 1949 erschienenen berühmten Werk „The Hero with a Thousand faces“ („Der Heros in tausend Gestalten“) vergleicht er die vielfältigen Mythen, Märchen und Initiationsriten, von den ältesten erhaltenen Überlieferungen der Menschheit, wie z.B. die Mythen der Sumerer, bis hin zu modernen Filmen und Träumen.
So fand er heraus, dass all diesen Geschichten eine universale Tiefenstruktur zugrundeliegt. Es ist der „Weg des Helden“, den alle Protagonisten auf ganz unterschiedliche Weise durchleben.

Diese „Heldenreise“ ist nicht nur ein Geheimcode für spannende Geschichten, sondern beschreibt auf einer bildhaften Ebene ein uraltes und tief in jedem Menschen angelegtes Muster für erfolgreiche Veränderungs- und Reifeprozesse. Auf Bilderebene werden der innere Konflikt verschiedener widerstreitender Persönlichkeitsanteile und deren Integration dargestellt.

Ein DNA-Code zur Ganzwerdung des Menschen? Das klingt auf eine Art vielversprechend einfach. Aber gibt es so etwas tatsächlich? Eine uralte Anleitung für mehr Zufriedenheit? Ist es tatsächlich unsere eigene Sehnsucht nach erfolgreicher Veränderung, nach einem Mehr in unserem Leben, die wir in den Helden und ihren Geschichten wiederfinden?

Um dieser Frage auf den Grund zu gehen, lohnt es sich, das archetypische Muster genauer unter die Lupe zu nehmen. Welche innere menschliche Entwicklung verbirgt sich da tatsächlich hinter den Bildern?

Schauen wir noch einmal auf Harry Potter: Obwohl er eigentlich ein Zauberer ist, kann er sein wahres Wesen zunächst gar nicht entfalten. Seine Familie kämpft mit allen Mitteln gegen die Entwicklung seiner besonderen Fähigkeit an. Unser Held ist dadurch vor allem eines: Unglücklich.

Vielen Menschen geht es ganz ähnlich. Sie fühlen sich durch die äußeren Umstände eingeschränkt und nicht in der Lage, ihr Potential zu verwirklichen. Sie sehnen sich nach irgendeiner Art der Veränderung. Nach liebevolleren Beziehungen, einer erfüllenderen Aufgabe, nach Anerkennung oder einfach mehr Lebendigkeit.
Allen gegenteiligen Versuchen zum Trotz, erreicht Harry Potter letztendlich einer der Briefe aus Hogwarts. Die Aufforderung, in die Zauberschule zu gehen, ist vor allem ein innerer Aufruf, seiner Bestimmung zu folgen und sein wahres Potential zu entfalten.
Wenn wir nicht selbst für notwendige Veränderungen sorgen, scheint uns das Leben irgendwann dazu zu zwingen. Joseph Campbell spricht vom „Ruf ins Abenteuer“, der immer lauter wird, so lange, bis der Held ihm schließlich folgt. Der Ruf führt ihn auf seine Reise. Im alltäglichen Leben meldet sich dieser Ruf in der Regel als innere Stimme, als Unzufriedenheit, Depression, Burnout oder körperliche Krankheit. Er ist gleichzeitig die Alarmglocke des bisherigen Lebens und die tiefe Sehnsucht, für die es sich lohnt zu kämpfen. Denn Veränderungen sind bekanntermaßen nie so ganz leicht.
Der Held verkörpert also die Seite in uns, die etwas verändern will. Doch damit ist eine tatsächliche Veränderung noch lange nicht gelungen. Denn das Prinzip der Veränderung ist paradox. Ein altes Sprichwort sagt: Der Weg zur Hölle  ist mit guten Vorsätzen gepflastert. Sobald wir uns vornehmen, etwas zu verändern, wird automatisch eine Gegenkraft mobilisiert, die in der Regel dafür sorgt, dass der Vorsatz nicht umgesetzt wird. Je stärker die heldenhafte Seite in uns wird, desto mehr Kraft bekommt auch der Widerstand dagegen, der „innere Schweinehund“, der behauptet, es habe ohnehin alles keinen Sinn oder es sei viel bequemer, alles beim Alten zu lassen.
 

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Weiterlesen im Heft 4/16