Johanna Haberer: Der ganz andere Held

„Der blinde Christus“ heißt ein chilenischer Film (The blind Christ; Christopher Murray; Chile 2016), der es in diesem Jahr in den Wettbewerb der weltbesten Filme bei den Filmfestspielen in Venedig geschafft hat. Erzählt wird die Geschichte des Jungen Michael, der sich nach dem Tod seiner Mutter von einem Freund Nägel durch die Hände treiben lässt und von da an endgültig überzeugt ist, Gott habe ihn berufen Wunder zu tun. Aber zunächst wird er nur ein kleiner schmutziger Mechaniker, der höchstens an Fahrrädern Wunder vollbringt. Verachtet von seinem illusionslosen Vater und verspottet im Dorf, hält er trotzig den Glauben an seine Berufung fest, bis er erfährt, dass sein bester Freund, der ihm als Kind die Wundmale verpasste, wegen eines Arbeitsunfalls nicht mehr laufen kann.

Es beginnt ein Roadmovie zu Fuß. Ebenso wie sich Jesus auf die Wanderschaft begeben hat, macht sich nun Michael auf den Weg durch die armseligen Wüstendörfer im nördlichen Chile, um seinen Freund zu heilen. Wunder will er vollbringen. Auf seinem Weg zu dem lahmen Freund begegnet er allein gelassenen, vergewaltigten, süchtigen und vor allem bitter armen Menschen, die Träume haben und alle auf ein Wunder hoffen. Er verkündet ihnen die Botschaft, dass die Wunder aus den Menschen selbst kommen und nicht magisch von außen, weil Gott in den Herzen der Menschen wirkt. Wie Jesus erzählt er Geschichten, Parabeln und Gleichnisse. Die Menschen beginnen ihm zu folgen, nicht weil er Wunder vollbrächte, sondern weil er sich auf ihr Leben einlässt, ihnen ganz einfach beisteht. Auch das Wunder an seinem Freund misslingt gründlich und trotzdem hat Michael die Welt seiner Mitmenschen verändert. Heilung geschieht durch Empathie. Mit seinem Mitgefühl, der Nähe, die er gewährt und der Solidarität, die er lebt, schenkt er Hoffnung

Man begreift in diesem Film, der - außer dem Hauptdarsteller - mit Laiendarstellern aus den nordchilenischen Wüstendörfern gedreht ist, dass die Erzählung von Jesus bei den Armen und Erniedrigten, den Kranken und Gedemütigten, den Ausgestoßenen und Hoffnungslosen seinen Anfang genommen haben muss. Denn genau dort wartet man sehnlichst auf Wunder.

Ist Michael aus Chile, dieser „blinde“ Christus ein Held?

Die Figur des Jesus von Nazareth hat unendlich viele Künstler zu unterschiedlichen Zeiten inspiriert, ein Bild dieses Religionsgründers zu entwerfen: da gibt es den heroischen und den sanften, den radikalen und den esoterischen, den unnahbaren und den liebenden, den handgreiflichen und den entrückten, den schönen und den eher unansehnlichen.
Dass Jesus in unserer Vorstellung eine Figur in so unglaublich variantenreichen Facetten geworden ist, hat nicht zuletzt damit zu tun, dass die junge Kirche, als sie auf mehreren Synoden darüber beriet, welche der vielen damals verbreiteten Jesusgeschichten in den festen Kanon der Kirche aufgenommen werden soll, widerstanden hat, auf einer einzigen Variante zu bestehen. Auch spätere Versuche ein einziges Evangelium als das gültige zu harmonisieren, wurden als Irrlehre gebrandmarkt.
Wir finden im neuen Testament also vier Evangelien, von denen jedes ein ganz eigenes Portrait dieser weltumstürzenden Gestalt zeigt: der geheimnisvolle Heiler (Markus), der Intellektuelle und Spirituelle (Johannes), der Soziale (Lukas) und der jüdische Religionsgelehrte (Matthäus).

Es war eine weise Entscheidung der frühen christlichen Bischöfe vor mehr als 1500 Jahren, dass sie ihren Nachfahren damit aufgetragen haben, das Bild des Jesus mit dem Beinamen Christus immer neu zu interpretieren. Es gibt zwar eine festgelegte Anzahl von Texten, die wir heute das Neue Testament nennen, aber die Figur des Jesus muss in jeder Zeit von jedem einzelnen Leser neu ausgelegt und verstanden werden. Das ist der Auftrag an jede Generation.
Diese Vielfalt der Bilder hat eine ungeheure Kreativität der Auslegungsgeschichte in Texten und Bildern hervorgebracht – aber eines ist allen gleich: Jesus ist als Held eher gebrochen gezeichnet.
Ein Held ist einer, der in den jeweiligen Wertekategorien einer Gesellschaft oder Gruppe mit einer Tat punkten kann.  Das heißt, was ein Held ist, ist ziemlich relativ. Die Fans feiern das Fußballteam bei der Weltmeisterschaft, der Staat übergibt Medaillen an Lebensretter und der IS feiert als Helden einen, der in Nizza beinahe neunzig Menschen mit einem Lastwagen über den Haufen fährt.

Helden unterschiedlicher Art werden von Medien inszeniert

Derzeit haben die Rankingshows Konjunktur: ob Models oder Sänger, Tänzerinnen oder Sportler alles bekommt seinen Platz im Ranking zugewiesen. Wer schlägt sich durch? Wer ist die Beste, die Schönste, der Attraktivste? Wie Blasen auf der Wasseroberfläche oder wie Fenster auf dem Bildschirm poppen Helden auf: Youtube-Helden, Twitterhelden, Facebookhelden....Die mit den meisten Links, den meisten Likes, den meisten Freunden, den meisten „Followern“.
„Folge mir nach“ sagte Jesus und er meinte es ganz unvirtuell, aber anspruchsvoll. Er meinte es leiblich und seelisch und geistig. Die Zahl seiner Follower hielt sich denn auch in Grenzen. Zwölf waren es, die ihm nachfolgten und den Preis der Aufgabe ihres bisherigen Lebens zahlten. Die Bergpredigt hörten dann angeblich hunderte, am Palmsonntag stand wohl eine große Menschenmenge am Wegesrand und jubelten dem Mann auf dem Esel zu, am Richtplatz vor dem Palast des Pilatus waren es dann ebenso viele, die „kreuzige“ riefen. Doch unter dem Kreuz versammelten sich nur noch die Frauen und die Spötter. Nach „Held“ klingt das eher nicht.

Ein Held, so sagt Wikipedia, sei eine Person, die eine besondere, außeralltägliche Leistung begeht sei es körperlicher, intellektueller oder moralischer Natur.
Die biblischen Schriften geben sich da kritisch: Der Messias, auf den Juden und Christen hoffen, ist als Held eine Enttäuschung. Ein leidender Gottesknecht. Ein Verfolgter, Verspotteter, Verurteilter, Gekreuzigter.
Es scheint, als würden wir Menschen andere benötigen, die wir auf den Sockel stellen und bewundern können oder auch im buchstäblichen wie übertragenen Sinne anbeten.

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Weiterlesen im Heft 4/16