Johannes Verch: „Ich sehe in der Breite nicht den ganz großen Aufbruch."

Ein Gespräch mit dem Berliner Nachhaltigkeitsforscher Dr. Johannes Verch über einen nachhaltigen Lebensstil, die Faszination an Greta Thunberg und seine skeptische Haltung zu "Fridays for future".

Ein Gespräch mit dem Berliner Nachhaltigkeitsforscher Dr. Johannes Verch über einen nachhaltigen Lebensstil, die Faszination an Greta Thunberg und seine skeptische Haltung zu "Fridays for future".

baugerüst: Was verstehen Sie konkret unter Bildung für nachhaltige Entwicklung? 

Johannes Verch: Das betrifft eine gewisse Haltung bei denen, die bilden und sich selbst bilden wollen. Eine Haltung, die soziale, ökonomische, ökologische Aspekte berücksichtigt, die sich Gerechtigkeitsfragen stellt. Außerdem ist Bildung für nachhaltige Entwicklung ein Suchprozess, keine fertige Antwort. Man sucht nach neuen Bedürfnisstilen, neuen Kulturen, nach lebbareren Varianten. Es ist prozessorientiert: Man will alte Pfade irgendwie verlassen, hat aber noch keine Antwort dahingehend, wo es hingehen kann. Das sind zwei Hauptcharaktere. Es ist eine begriffliche Offenheit des Systems, in der ein Suchbegriff, ein Prozess drinstecken.

baugerüst: Und was sind die konkreten Ziele?

Verch: Man sollte sowohl intra- als auch intergenerational gucken, für Gerechtigkeit zu sorgen mit einem  vergleichbaren Lebensstil, entsprechend ökologische Regeln einhalten, anhand derer man Nachhaltigkeit auch festmachen kann: Belastung mit Müll, Emissionen oder verantwortungsvolle Nutzung von Ressourcen, da gibt es ja etliche Indizes, die aufgestellt worden sind. Die geben eine grobe Orientierung. Außerdem haben wir den Kompetenzbegriff in der Nachhaltigkeitsbildung. Es ist auch ein Ziel, die Menschen mit Kompetenzen auszustatten und dann diese Aspekte im eigenen, institutionellen oder kulturellen Handeln zu berücksichtigen. Das ist ein hehrer, großer Anspruch, ein allumfassendes Weltziel, das dann aufs Individuum projiziert wird. 

baugerüst: Die Bildung für nachhaltige Erziehung wurde in den vergangenen Jahren durch UN-Weltdekade und Unesco-Weltaktionsprogramm in den Mittelpunkt gerückt. Die Unesco hat bereits signalisiert, auch ein Nachfolgeprogramm auf den Weg zu bringen, das bis 2030 gehen soll. Wo sehen Sie nach all den Jahren des Engagements den größten Handlungsbedarf?

Verch: Das Problem ist, dass alles irgendwie zusammenhängt: Klimaflüchtlinge, Klimaveränderung, Zerstörung von Lebensgrundlagen, soziale Polarisation, Kinderarmut. Eigentlich müssen wir besser gestern als morgen komplett umstellen – auf was auch immer. Bildung ist ein Aspekt, der wirksam wird, aber in einem längeren Zeitraum. Guckt man auf das Individuum, dann braucht die Umstellung vielleicht zwei, drei Jahrzehnte oder sogar mehrere Generationen. Bildung für nachhaltige Entwicklung müsste auf der Seite des Individuums sehr schnell in die habituellen Routinen der Personen eindringen und etwas verändern. Und gleichzeitig sofort etwas an Verhältnissen verändern, wenn nicht sogar diese umstürzen. Dieser Doppelfokus ist das Besondere an der Bildung für nachhaltige Entwicklung, dass auch die Verhältnisse mit in den Blick geraten. Das sind die beiden Ziele. Da steckt die größte Herausforderung drin, weil das überhaupt nicht absehbar ist. 

baugerüst: Es gibt ja auch die 17 globalen Nachhaltigkeitsziele (sustainable development goals der UN –sdg). Was halten Sie davon? 

Verch: Man kann die so formulieren. Die ergeben sich natürlich aus dem Handlungsbedarf, aber im Prinzip ist es, wenn man es historisch sieht, das Weltprogramm einer sorgentreibenden Weltaufklärung, wo eigentlich alle großen Probleme auf den Nachhaltigkeitsbegriff niederprasseln. Und ich glaube auch zu Recht, weil alles mit allem zusammenhängt. Und damit hat man einen Fokus, den man seit spätestens 1992 mit dem Nachhaltigkeitsbegriff verbindet, und auf den man dann runtergebrochen operationalisiert gucken kann, um anhand von Indizes ein Stück weiter zu kommen. Aber das Problem ist bildungstheoretisch, einem Individuum einen Bildungskanton aufzulasten und damit sozusagen die Welt systemisch retten zu wollen. 

baugerüst: War das vorher, als von dem Nachhaltigkeitsbegriff noch nicht die Rede war, anders?

Verch: Als es den Begriff noch nicht gab, sprach man von Umwelterziehung. Man hat versucht, noch in den 70er Jahren nach dem Verursacher- und Kausalprinzip Unternehmen und Politik in die Verantwortung zu nehmen und nachdem das mehr oder weniger gescheitert ist, hat man irgendwann 1977 in Tiflis umgeschaltet und bei Bildung und dem Individuum angefangen. Es hat ein Paradigmenwechsel stattgefunden, weil man es kollektiv-systemisch nicht hinbekommen hat und dann beim Bildungsbegriff angefangen hat und damit dem Individuum eine gigantische Verantwortung aufgelastet hat für die ganze Welt. Und wenn man sich die Gestaltungskompetenzen anguckt oder die 17 Ziele: Wenn ich das alles auf meinen schmalen Schultern tragen soll oder wir alle, dann können wir nur zusammenbrechen. Das ist ein grundsätzliches erziehungstheoretisches Dilemma. 

baugerüst: Aber ist es deshalb umso wichtiger, möglichst bald anzufangen? Sie engagieren sich ja zum Beispiel auch beim Haus der kleinen Forscher. 

Verch: Meine Haltung dazu ist: Ja, weitermachen auf allen Ebenen, auch bei frühkindlicher Bildung, aber bitte nicht die Kindheit mit einem Weltinnenministerium überfrachten. Dranbleiben, eine Chance geben. Aber gleichzeitig sage ich, diese Spur der Bildung zu verfolgen, wird nicht ausreichen. Meine Stimmung, wenn ich rausgucke, ist eher resignativ. Obwohl ich beruflich und vom Ethos her weitermache. 

baugerüst: Weil es nicht schnell genug geht?

Verch: Ja, aber auch widersprüchlich. Der große Zug in der Welt fährt auf einer ganz anderen Spur und da mit unserem kleinen Bildungsanspruch gegen zu halten, das zerreißt mich manchmal selbst. 


baugerüst: Sie haben gesagt, dass das Individuum die ganze Last auf den Schultern trägt. Ist es für Jugendliche eine Hürde, da es sich um ein globales Ziel handelt und man denken könnte „Ich als Einzelner kann ja gar nichts ausrichten“? 

Verch: Ja, und es gibt immer einen Unterschied zwischen der Merk- und der Wirkwelt. Das, was ich um mich herum spüre an Problemen, ist ja noch nicht so groß, jedenfalls bei uns nicht. Anderswo sieht es anders, viel dramatischer aus. Sich den Weltproblemen zu stellen und dabei der Gesamtkomplexität der Welt zu begegnen, das macht Angst. Das schlägt oft um in die Einstellung: Dann mache ich meinen Lebensstil so weiter, im Großen und Ganzen bin ich ja auch nicht verantwortlich für das, was mich in dieser Gesamtheit überfordert. Allen Entwicklungen wie „Climate for future“ zum Trotz, wo jetzt eine Gefühls- und Bewusstseinslage ein Stück zum Ausdruck kommt – jedenfalls zur Zeit. Mal sehen, ob es eine Epoche wird – erstmal würde ich es nur als Episode benennen, die aber doch schon etwas anhält. Ein Stück Protestkultur, die sich umfassender versteht. Aber daraus jetzt den ganz großen Hoffnungsfunken abzuleiten, da bin ich vorsichtig, da habe ich in den vergangenen 35 Jahren zu viel Aufs und Abs erlebt. 
 

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Foto: Annika Falk-Claußen