Katrin Valentin: Der digitale Sozialraum oder: Der Sozialraum als Hybrid

Wie verändert sich Sozialraumaneignung?

Wenn wir von einem Sozialraum sprechen, dann war damit schon immer nicht nur der physische Raum gemeint, sondern auch die Bedeutungszuweisungen, die die Subjekte des Sozialraums vornehmen. Durch die Digitalisierung der Lebenswelt erfährt der Sozialraum nun eine Ausweitung  um die so genannte digitale Sphäre. Der Mensch kauft dort in virtuellen Geschäften ein,  knüpft Kontakte zu Gleichgesinnten und Freunden, spielt Spiele, erkundigt sich über Öffnungszeiten und Angebote in der Gegend und vieles mehr. Je nach Entwicklungsaufgabe und Sozialisation unterscheiden sich dabei die Bedeutungszuweisungen der Menschen. Jung wie alt knüpfen dort Kontakte, ältere holen sich etwas mehr Informationen und jüngere spielen ein wenig mehr.

Diese digitale Sphäre ist direkt mit der so genannten „realen“ Wirklichkeit verbunden. Sie ist in erster Linie eine Erweiterung des Sozialraumes und knüpft zu vielen Teilen direkt an der „realen“ Welt an. Das lässt sich an ein paar Alltagsbeispielen veranschaulichen: Den Tipp, ein bestimmtes Kleid bei Amazon zu kaufen, erhält man von der Nachbarin, der große Bruder der Freundin zeigt einem, wie man das Online-Game spielt, die Gruppe bei WhatsApp entstand durch die Teilnahme an einem Workcamp und die Bücherei, über deren Öffnungszeiten man sich im WorldWideWeb erkundigt, liegt in der direkten Umgebung.

Diese Verwobenheit von digitalem und analogem Sozialraum bezeichnet man als Hybridisierung. Das heißt, Kinder und vor allem Jugendliche wachsen in einem hybriden Sozialraum auf. In diesem Sinne eignen sie sich ihren Sozialraum auch „vireal“ an (Ketter 2011, S. 19). „Vireal“ ist ein Zusammenschluss von „real“ und „virtuell“. Auch das lässt sich an ein paar Alltagsbeispielen veranschaulichen: Früher sah man ein Plakat vom Jugendhaus am Schulweg, heute erhält man eine WhatsApp. In den 80er Jahren traf man sich bei der Pizzeria, heute wählt man unterstützt von Empfehlungen, die durch zahlreiche Likes fremder Personen entstehen, per Lieferando eine Pizza. Bildeten ehemals viele Kinder kleine Gangs auf den Straßen, so schließen sie sich heute in Clans in Online-Games zusammen.  

Ein wesentlicher Unterschied zwischen den analogen und digitalen Räumen besteht darin, dass man in zweiteren in wesentlich höherem Ausmaß die Gestaltung des Sozialraumes durch eigene Entscheidungen in der Hand hat. Das heißt, die Bedeutungszuweisungen der Jugendlichen führen dazu, welche Räume sie betreten. Sie können sich auf Cosplay-Seiten (1) aus Amerika einloggen, über Facebook mit einem Kumpel in Norwegen in Kontakt bleiben oder eine Hausarbeit von einem Studenten in Schleswig-Holstein lesen. Doch gelten bei dem Flug durch die unendlichen Weiten des Internets ähnliche Bezüge wie bei der Aneignung des analogen Sozialraums: Die Nutzerinnen erhalten durch ihren sozialen Nahraum Impulse. Je nach Entwicklungsaufgabe und Neigungen distanzieren sich die jungen Menschen von ihnen (der Sohn einer passionierten Orgelspielerin gestaltet die Homepage des „Heavy-Metal-Fanclubs Oisenhausen“) oder verfolgen sie weiter (die Nachbarstochter einer Fotografin erfährt von ihr von „Knipsclub.de“ und teilt dort ihre Schneckenfotos aus der Pfütze im Schulhof mit Gleichaltrigen).

Am Beispiel von Social Web wurde die spezielle Aneignung des digitalen Sozialraums empirisch untersucht (im Folgenden Brüggen/Schemmerling 2014). Zu beobachten sind so genannte Modi der Abbildung sozialräumlicher Bezüge. So bezeichnet man zum Beispiel die Tatsache, dass sich Kontakte aus dem analogen Sozialraum auch in der Facebook-Nutzung integriert werden. Bezüge aus verschiedenen Lebensbereichen der Jugendlichen überlappen und verweben sich dabei. Beispielsweise erhalten Bekannte von einer Jugendfreizeit auch Informationen über und von Mitkonfirmanden oder Fans eines lokalen Fußballclubs. Jugendliche verhalten sich dabei auch segregierend, das heißt, sie nehmen bewusst soziale Trennungen vor. Sie können zum Beispiel durch Einstellungen der Sichtbarkeit bestimmter Informationen Personengruppen ausschließen.

Das Medienhandeln hat damit direkte Auswirkungen auf die sozialen Beziehungen der Jugendlichen und damit auf das soziale Geflecht im hybriden Sozialraum, der ja die digitale wie auch die analoge Sphäre umfasst. Jugendliches Aufwachsen erfolgt also in Auseinandersetzung mit ineinander verwobenen sozialen und medialen Elementen ihres Sozialraumes, den sie sich vireal aneignen.

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