Michael Domsgen: Glauben weitergeben

Dass gegenwärtig die Frage nach der Weitergabe des Glaubens neu in das Blickfeld rückt, ist durchaus bemerkenswert. Denn die darin liegende Herausforderung begleitet das Christentum, wie übrigens andere Religionen auch, seit seinen Anfängen. Immer geht es dabei darum, das, was einer Generation wichtig geworden ist, an die nächste Generation weiterzugeben. Im historischen Rückblick gibt es also Kontinuitäten und Veränderungen zugleich. Beidem soll im Folgenden nachgegangen werden.

Zu Chancen und Grenzen der Glaubensweitergabe in pädagogischer und theologischer Perspektive

Wer von der Weitergabe des Glaubens spricht, bewegt sich – pädagogisch gesprochen – im Feld von Erziehung. Die mit diesem Begriff beschriebene besondere Zuwendung zur jeweils nachfolgenden Generation gibt es seit es Menschen gibt, wurde aber erst nach und nach bewusst reflektiert, begrifflich gefasst und in eigenen Tätigkeiten ausdifferenziert. Immer jedoch geht es dabei letztlich um die Reaktion „auf das Problem von Geburt und Tod“(1). Erziehung fungiert als „Vermittlung des nichtgenetischen Erbes durch die ältere Generation an die jüngere“(2). Das, was der älteren Generation wichtig geworden ist, was sie im Leben und Sterben getragen hat, stünde in der Gefahr verloren zu gehen, wenn es nicht bewusst weitergegeben würde. Dazu kommt, dass sich die Welt, in die die jüngere Generation hineingeboren wird, nicht unmittelbar selbst erklärt. Deswegen brauchen Menschen zusätzlich zu den in ihnen angelegten „Bauplänen“ (Montessori) Impulse, um sich in Interaktion mit ihren jeweiligen Lebensbedingungen zu entwickeln. Der Glaube bildet hier keine Ausnahme. „Kein Kind kann sich einfach aus sich heraus religiös entwickeln, durch bloßes ‚Reifen’.“(3) Es braucht Impulse von außen, die seiner jeweiligen Entwicklungsphase angemessen sind. Aber auch damit ist Glaube nicht herstellbar. Vielmehr finden Menschen ihren eigenen Glauben „nur durch selbständiges ‚Entdecken’“(4), wobei sich auch dieses Entdecken letztlich der Machbarkeit entzieht, also unverfügbar bleibt. Dass Menschen ergriffen werden von der Zusage Gottes „Ich bin für dich da“ (Ex 3,16), kann letztlich nicht anerzogen werden.
Die Weitergabe des Glaubens gehört also in den Kontext von Erziehung, geht darin allerdings nicht vollständig auf. Dass die absichtsvollen Impulssetzungen auf innere Resonanz stoßen, lässt sich im Rahmen des erzieherischen Handelns nicht bewerkstelligen, ja es entzieht sich letzten Endes den damit gegebenen Möglichkeiten, ohne sie jedoch überflüssig zu machen.
Pädagogisch gesehen steht der Glaube hier in vergleichbaren Zusammenhängen wie andere Lebenshaltungen auch. Dass Menschen beispielsweise im Gegenüber eine mit unverlierbarer Würde ausgestattete Person sehen, ergibt sich nicht von selbst, ist also anzubahnen und kann zugleich nicht letztgültig hergestellt werden. Die innere Evidenz, das Einleuchten dieses Interpretationsmusters verbleibt im Feld des Unverfügbaren.
Theologisch korrespondiert eine solche Sichtweise mit dem Gedanken von Glaube als Geschenk Gottes, wie sie besonders deutlich in der Rechtfertigungslehre zum Ausdruck kommt. Sie erinnert an die Grenzen des Machbaren und kann so vor überzogenen Erwartungen im pädagogischen Feld schützen. Das vertrauensvolle Sich-Einlassen auf Gottes Zuwendung zu den Menschen ist nicht herstellbar. Hier kommen bewusst und unbewusst angestoßene Lehr- und Lernprozesse an ihre Grenzen. Allerdings können sie die „Bedingungen in Sachen Glauben“ durchaus „möglichst günstig bereiten“, „also alles, was die Inhalte und die Art und Weise des Glaubens betrifft ... Doch der Akt des Glaubens ... ist eine Sache, die sich zwischen dem gnadenhaften Geschenk Gottes und der freien Zustimmung des einzelnen Menschen im Verborgenen vollzieht.“(5) Hilfreich kann hier eine Unterscheidung sein, die auf Augustin zurückgeht. Der Glaube hat eine inhaltliche Seite „fides quae creditur“ (= der Glaube, der geglaubt wird) und eine beziehungsorientierte Seite „fides qua creditur“ (= der Glaube, mit dem geglaubt wird“). Für Ersteres sind Impulse unabdingbar. Letzteres ist nicht herstellbar. Gleichwohl gibt es Faktoren, die das vertrauensvolle Sich-Einlassen auf die Inhalte des Glaubens tendenziell begünstigen und solche, die es tendenziell erschweren.

Zur Bedeutung der Sozialisation als vorstrukturierender Faktor

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