Michael Haspel: Ist die Welt ungerecht?

In meiner aktiven Zeit in der evangelischen Jugend gab es in einer Arbeitshilfe folgenden Vorschlag: Der/die GruppenleiterIn lädt die Jugendlichen zum nächsten Gruppentreffen zu einem Abendessen ein. Ohne weitere Begründung bekommen dann die einen ein festliches Essen serviert, andere, willkürlich ausgewählt, bekommen ein kleines Schälchen Reis.

Ganz schnell entsteht zuerst Genöhle, das dann in den Gerechtigkeits-Code übersetzt wird: Das sei ungerecht, weil die einen ungleich und schlechter behandelt würden. Ich weiß nicht, ob ich das heute noch einmal machen würde; aber damals führte uns das – ohne dass ich das damals so hätte formulieren können – in den Kernbereich der Gerechtigkeitsdebatte: Es geht um Ungleichheit und Benachteiligung. Und letztlich lässt sich dies in gegenwärtig immer wieder strittige Gerechtigkeitsfragen übersetzen.

Ist es gerecht?

Ist es gerecht, dass ein Krankenpfleger viel weniger verdient als eine Ärztin? Ist es gerecht, dass ein Pop- oder Sportstar ein Vielfaches dessen verdient, was jemand mit großer Verantwortung und Belastung im Beruf bekommt? Ist es gerecht, dass Menschen im globalen Süden für einen Hungerlohn in Fabriken oder auf Plantagen arbeiten und Menschen im globalen Norden billige Nahrungsmittel und Textilien kaufen können? Ist es gerecht, dass Kinder aus bildungsfernen Familien weniger Bildungschancen haben als solche, deren Eltern selbst schon eine gute (Aus-)Bildung haben? Ist es gerecht, dass Mädchen die besseren Abiturnoten haben als Jungs? Ist es gerecht, dass Männer in Führungspositionen mehr vertreten sind als Frauen? Ist es gerecht, dass die Menschen des globalen Südens nicht in die Länder des globalen Nordens einwandern dürfen? Ist es eine Frage der Gerechtigkeit, wenn Menschen mit mehr finanziellen Ressourcen sich bessere AnwältInnen leisten können und deshalb geringer bestraft werden als andere?Zum einen wird man jedenfalls auf einige Fragen ganz unterschiedliche Antworten bekommen, wenn man verschiedene Menschen befragt. Zum anderen wird man aber auch ganz unterschiedliche Argumente und Kriterien zu hören bekommen, wenn man genauer nach Begründungen für die „gefühlte“ Un/Gerechtigkeit fragt.
Dann kann man feststellen, dass – ganz unabhängig davon, was man als un/gerecht empfindet und wie man jeweils argumentiert - auch ganz unterschiedliche Bereiche berührt sind.

Die klassischen Theorien der Gerechtigkeit, etwa bei Aristoteles und seinen Nachfolgern, beziehen sich auf Tausch und Verteilung von Gütern und Dienstleistungen. Die Tauschgerechtigkeit umfasst demnach vor allem Beziehungen zwischen Individuen. Das kann man auf das Verhältnis von ArbeitnehmerInnen und ArbeitgeberInnen übertragen. Wird für eine bestimmte Leistung ein gerechter Lohn bezahlt? So könnte man also die Frage nach dem Einkommen von Pflegepersonal und ÄrztInnen unter dem Gesichtspunkt der Tauschgerechtigkeit betrachten. Bekommt jede und jeder für seine bzw. ihre Leistungen einen angemessenen Lohn?

Bei der Verteilungsgerechtigkeit ist in den klassischen Gerechtigkeitskonzepten noch nicht der moderne Sozialstaat im Blick, aber es geht um gesellschaftliches bzw. staatliches Handeln. Es ging in der griechischen Polis, die der soziale Kontext für diese Überlegungen war, darum, ob öffentliche Ämter und Ehrenbezeugungen gerecht verteilt werden, was hinsichtlich der häufigen militärischen Unternehmungen eine besondere Bedeutung hatte (Sklaven und Frauen waren also von vorneherein ausgeschlossen).Diese Kategorien haben über lange Zeit das abendländische Denken über Gerechtigkeit geprägt. Die Frage ist nun, ob sie denn für den heutigen, durch zunehmende Globalisierung geprägten gesellschaftlichen Rahmen noch angemessen sind.

Man könnte ja auch die Entlohnung des medizinischen Personals als Frage der Verteilungsgerechtigkeit betrachten. Der Träger des Krankenhauses hat bestimmte Einkünfte, die er für Personalkosten ausgeben kann. Wer davon wieviel bekommt, hängt von vielen Faktoren ab. Ist das Ergebnis dann aber gerecht, wenn die Arzt_innen einfach eine bessere Verhandlungsbasis haben, weil sie hoch qualifiziert und spezialisiert und deshalb nicht so leicht zu ersetzen sind? Mit dieser Problemstellung ist das berührt, was im modernen Wohlfahrtsstaat als soziale Gerechtigkeit bezeichnet wird. Damit ist aber etwas intendiert, was den Rahmen der klassischen Theorien überschreitet – und das zugleich in der Moderne erst denkbar wird.

Diskurse zur Gerechtigkeit

War man bis in das Mittelalter wohl überwiegend davon ausgegangen, dass es eine unveränderliche gesellschaftliche Ordnung gäbe, - meist verbunden mit dem Gedanken, dass sie göttlich installiert sei – so wachsen mit der Aufklärung und den entstehenden ökonomischen und sozialen Theorien Vorstellungen, dass die gesellschaftlichen Bedingungen durchaus vom Menschen gemacht sind. Und dass die gesellschaftlichen Strukturen, etwa die Verteilung von Macht, Bildung und Geld über die Lebenschancen von Menschen jedenfalls mit-entscheiden (Marx und andere nannten dies Politische Ökonomie).An dieser Konstellation entfachen sich die klassisch-modernen Diskurse zur Gerechtigkeit. Garantiert möglichst viel Freiheit für die Einzelnen am besten Gerechtigkeit oder möglichst viel staatlicher Ausgleich von Ungleichheit? Geht es darum Ergebnisgleichheit zu schaffen, also dass am Schluss alle das Gleiche haben, oder sollen vielmehr die Einzelnen strukturell in die Lage versetzt werden, an gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Prozessen angemessen teilzuhaben (Befähigungs- oder Teilhabegerechtigkeit)? Im ersteren Fall würde sich eine Umverteilung über Steuern und Abgaben empfehlen, im zweiten dagegen eher (frühe) Unterstützung von Bildungsprozessen aller in je individuell unterschiedlicher Weise. Die Umsetzung dieser Gerechtigkeitsvorstellungen haben jeweils komplexe politische Konsequenzen, die mit zu bedenken sind. Zu viel Umverteilung und damit verbunden hohe Steuern und Abgaben können unter bestimmten Umständen zu höherer Arbeitslosigkeit führen – oder durch hohe Verschuldung zu Beeinträchtigung der Lebenschancen folgender Generationen (Generationengerechtigkeit).

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