Sina Arnold: Wer darf kommen?

Nach dem langen Sommer der Migration

Der „lange Sommer der Migration“, der Europa und Deutschland 2015 in Atem hielt, liegt hinter uns. Mehrere Hunderttausend Menschen flohen aus Syrien, dem Irak, den Westbalkanstaaten und anderen kriegs- und krisengeschüttelten Ländern – übers Mittelmeer, quer durch Europa, über Grenzzäune hinweg, zu Fuß, per Zug, mit Kindern und Säuglingen. Die Ereignisse waren auf der einen Seite gerahmt von Anschlägen auf Unterkünfte der Geflüchteten, im sächsischen Heidenau und anderswo – im Durchschnitt mehr als einer täglich in diesem Jahr – und dem Erstarken der Pegida-Bewegung. Erinnerungen an die frühen Neunziger Jahre wurden wieder wach, an die Pogrome von Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen, an die Brandanschläge von Mölln und Solingen. Die andere Seite stellten – anders als in den Neunziger Jahren – die überraschenden Bilder an den Bahnhöfen von Frankfurt, München und anderswo Anfang September dar. Geflüchtete wurden herzlich willkommen geheißen, mit Tee, Essen, Kuscheltieren und Luftballons begrüßt. Tausende Ehrenamtliche wurden aktiv in Notunterkünften, gaben Sprachunterricht, verteilten Essen. Selbst die Bild-Zeitung, sonst bekannt für stereotypisierende Berichterstattung zum Thema Einwanderung, schmückte sich mit dem Hash-Tag #refugeeswelcome.

Nun kommt der Sommer der Migration in einem doppelten Sinne klimatisch seinem Ende zu: Nicht nur hält der Winter Einzug, auch das gesellschaftliche Klima hat sich gewandelt, die Euphorie ist verflogen. Die CDU, die zunächst flexibel reagierte – beispielsweise durch Angela Merkels kurzfristiges Aussetzen der Dublin-Verordnungen für syrische Flüchtlinge im August – bringt nun Gesetzesverschärfungen, Abschiebungen, Grenzschließungen und Transitzonen auf die Tagesordnung. Die Verwaltung ist überfordert mit mehr als 300 000 unbearbeiteten Asylanträgen – gut 75 000 von ihnen sind seit über einem Jahr anhängig. Obwohl an vielen Orten die offenen Arme in langfristiges zivilgesellschaftliches Engagement für Flüchtlinge übergegangen sind, sind viele HelferInnen überlastet, dass sie dauerhaft Aufgaben übernehmen, die eigentlich staatliche sind. Und die Geflüchteten harren in Massenunterkünften aus und warten auf das Bearbeiten ihrer Anträge, oder auch nur auf einen Termin, um einen solchen zu stellen – oft wochen- und monatelang.

Die Frage, die immer wieder hörbar ist und war, lautet „Wer darf kommen?“. "Welche Fluchtgründe sind legitim?" "Wie viele Geflüchtete können wir aufnehmen?" "Wer soll abgeschoben werden?" Nur selten wird sie uneingeschränkt mit „alle“ beantwortet. Bei aller Unterschiedlichkeit der Antworten haben diese doch gemein, dass sie notwendigerweise eine Selektion nach sich ziehen, zumeist entlang der Faktoren Sicherheit, Legitimität und Nützlichkeit. So war der europäische Aufschrei besonders groß nach dem Tod des dreijährigen Aylan Kurdi, der mit seinen Eltern aus Syrien geflohen und bei der Überfahrt vom türkischen Ferienresort Bodrum nach Griechenland ertrunken war. Das im September tot an der Küste aufgefundene Kleinkind verkörperte das Bild des unschuldigen Opfers. Ihm konträr entgegengestellt werden Ahmad Almohammad und Mohammed al-Mahmod, zwei der mutmaßlichen Attentäter der Pariser Anschläge, die möglicherweise aus Syrien über Griechenland in die EU einreisten. Das klischeehafte Bild des gut ausgebildeten syrischen Arztes wird im öffentlichen Diskurs den vermeintlichen „Wirtschaftsflüchtlingen“ aus dem Balkan gegenübergestellt. Ein Nützlichkeitsdenken dominiert, neben eingestreuten humanitären Überlegungen, auch den politischen Diskurs: Bereits in den letzten Jahren wurde immer wieder gefordert, dass Deutschland ein Einwanderungssystem nach Punkten – siehe Vorbild Kanada – bräuchte, um dem Mangel an Pflege- und anderen Arbeitskräften ebenso zu begegnen wie eine Antwort auf die demographische Alterung der Gesellschaft zu finden. Auch in diesem Sommer war es die Wirtschaft, die Interesse an den Neuhinzukommenden für unbesetzte Ausbildungsplätze hatte, unterstützt durch zahlreiche Online-Angebote wie die Plattform www.workeer.de. Wolfgang Schäuble betonte beim EU-Kommissionsgipfel im November ebenfalls die Wachstumschancen durch den Flüchtlingszustrom mit dem Verweis, dass wer Flüchtlinge aufnehme, sich nicht nur solidarisch zeige, sondern auch etwas für Wachstum tue. Diese Argumentation ist ebenso richtig wie der Wunsch nach Sicherheit vor Terrorismus legitim ist. Doch beide bergen Fallstricke.
 

......

Weiterlesen im Heft 1/16