Ulrike Bruinigs: "Damit die Welt zusammenhält"

Gemeinsames Sozialwort von aej (Arbeitsgemeinschaft Evangelischer Jugend in Deutschland) und BDKJ (Bund der Deutschen Katholischen Jugend)

Vor beinahe zwanzig Jahren haben sich die beiden großen Kirchen in Deutschland zur sozialen und wirtschaftlichen Lage in Deutschland mit einem Sozialwort geäußert. Angesichts der Herausforderungen Ende der 90er Jahre wollten sie ihre Einsichten auf dem Hintergrund des christlichen Glaubens in den gesellschaftlichen Diskurs einbringen. „Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit“ wurde auch in der Evangelischen und Katholischen Jugend ausführlich rezipiert und besprochen. Gerechtigkeit war in diesem Papier eine der grundlegenden ethischen Perspektiven, die Christinnen und Christen in ihrem Denken und Handeln leiten. Daneben standen das Doppelgebot der Liebe  („Liebe Gott und deine Nächsten wie dich selbst“), die Option für die Schwachen, die Solidarität und die Nachhaltigkeit.

Auch 2014 taucht der Begriff der Gerechtigkeit wieder im Titel der Schrift auf, mit der sich die katholische Bischofskonferenz und der Rat der EKD erneut äußern. Mit ihrem gemeinsamen Text wollen sie eine Diskussion über die „Erneuerung unserer Wirtschafts- und Sozialordnung“ (1) anstoßen. Ziel dieser Diskussion, so impliziert der Titel der Schrift, ist eine gerechte Gesellschaft.

In diese Diskussion um die gerechte Gesellschaft mischt sich nun die Initiative von Evangelischer und Katholischer Jugend in Deutschland ein. 2014 beschließen die Mitgliederversammlung der aej und der Hauptausschuss des BDKJ, mit einer gemeinsam eingesetzten Arbeitsgruppe  einen Erarbeitungsprozess zu beginnen, in dem die Lebensperspektiven der jungen Generation in unserer Gesellschaft und für unsere Gesellschaft  in einem offenen Beteiligungsprozess junger Menschen aus beiden Jugendverbänden  zusammengetragen wird. Ende 2016 beschließen  sie dann ein Papier, das auch für das Bundestagswahljahr 2017 Themen zusammenstellt und Forderungen formuliert, die als zentralen Hintergrund den Gedanken der Teilhabe und der Gerechtigkeit in sich tragen. Er zieht sich durch alle Themenfelder, die als einzelne „Welten“  in Kapiteln behandelt werden. Dabei ist die Auswahl der Kapitel als Versuch zu verstehen,  Themen übersichtlich zu bündeln, die gleichzeitig  viele Überlappungen und Schnittmengen haben und auch als Querschnittsthemen denkbar gewesen wären.

Die Welt gestalten

„Lebenswelt gestalten“ wird mit Teilhabe und Freiheit als zentralen Werten im ersten Kapitel ausgeführt, mit Forderungen nach Erweiterung der Möglichkeiten politischer Beteiligung wie z.B. der Senkung des Wahlalters auf 14 Jahre, nach guten Rahmenbedingungen für politische Selbstorganisation, nach Barrierefreiheit und Beseitigung von Armut.
In der „Welt der sozialen Gerechtigkeit“ geht es um die Zukunft der sozialen Sicherungssysteme und eine gerechte Verteilung der Lasten und des Nutzens und um gerechte Steuern.

„Eine gemeinsame Welt“ nimmt die Auswirkungen der Globalisierung in den Blick und formuliert unsere Verantwortung darin. Forderungen beziehen sich auf menschengerechte Regelungen rund um Flucht und Migration, europapolitische Aspekte, Schritte zu einer gerechten Weltwirtschaft und zu einer weltweiten Friedensordnung.

Im Kapitel „Umwelt“ wird eine grundlegende Änderung der Einstellung zu unserer Welt gefordert, die umweltbewusstes Handeln nicht mehr als Option sondern als Leitmaxime versteht. Daraus werden politische Schritte abgeleitet, die zu in solchem Sinne veränderten Rahmenbedingungen führen.

In der „Bildungswelt“ leiten  Teilhabe und Gerechtigkeit die ausgeführten Gedanken. Chancengleichheit beim Zugang zu Bildungsangeboten soll in beiden Bereichen der Bildung verbreitet sein, im formalen Bereich genauso wie im nonformalen Bereich. Mehr Freiraum für Partizipation von Schüler*innen und jungen Menschen an den Angeboten werden gefordert.

Die „Arbeitswelt“ wird ebenfalls als Teil des gesellschaftlichen Lebens und Engagements von Menschen gesehen. Hieraus ergeben sich ein Wertewandel für die Bewertung von Arbeit und Forderungen nach Rahmenbedingungen, die Menschen gerecht entlohnen und ihnen ermöglichen, sich in ganzheitlicher Weise gesellschaftlich einzubringen. Auch die globale Verantwortung für Arbeitsbedingungen durch weltweiten Handel wird thematisiert.
Neben den erwartbaren Überschriften gibt es auch den Blick auf die moderne Welt und ihre „digitalen Welten“, die die Rahmenbedingungen des individuellen Lebens und des Zusammenlebens in  wachsendem Maß prägen und stetig weiter verändern. Die Möglichkeiten der Teilhabe von Menschen werden als Chance gesehen, die Freiheit des Mediums als Herausforderung. Regeln, die in der analogen Welt gelten, müssen auch im Netz ihren Wert behalten.

Kulturelle, religiöse, geschlechtliche und sexuelle Vielfalt sowie die Vielfalt der Lebensformen wird in „Welt der Vielfalt“ thematisiert. Auch hier geht es in erster Linie um Grundsätze der Gleichheit, Gerechtigkeit und Solidarität. Diskriminierung soll beseitigt, Gleichstellung ermöglicht werden.

Wie weit ist es her mit Gerechtigkeit und Teilhabe?

Was bedeuten all die Erkenntnisse und Forderungen nun für die Evangelische Jugend?
Wie inklusiv sind unsere Angebote und Strukturen, und wo begegnen wir den „Anderen“, die nicht zu uns gehören und die uns zunächst fremd sind?
Die Herausforderungen unserer Welt stellen sich nicht allein in der Gesellschaft und der globalen Vernetzung, sondern auch im Jugendverband und seinen Untergliederungen. Wir finden auch hier Unterschiedlichkeit und Diversität vor, es bestehen unterschiedliche Zugangsvoraussetzungen und Chancen.
Die Botschaft, die in der Evangelischen Jugend trägt, ist gleichzeitig eine Botschaft der Gerechtigkeit: Gott will Leben und rettet Leben. Jesus Christus und was er vertritt machen nicht Halt an den Grenzen von Ländern, Kulturen oder Ethnien. Auch nicht der soziale Status und selbst nicht ihre Vergehen hindern Jesus daran, sich Menschen zuzuwenden, ihnen Teil zu geben an der Gemeinschaft und sie zum guten Leben zu führen.
Wie weit können wir nun diese Angebote Gottes und diese Werte von Freiheit, Gerechtigkeit und Liebe auch im realen Leben und in den Zwängen der Welt aufleben lassen?

Darum gilt es sich zu streiten. Anregungen hierfür liefert das Sozialwort in rauen Mengen. Auch in der Evangelischen Jugend finden sich Überzeugungen, die Gerechtigkeit eben auch an Zugangsvoraussetzungen fest machen. Wer aus anderen Ländern zu uns kommt, hat erst einmal nicht die gleichen Rechte wie ich in dieser Gesellschaft, heißt das dann. Andere unterstützen das Menschenrecht auf freie Wahl des Wohnortes und ein Auskommen, wo immer man ankommt, aufgrund ihres christlichen Glaubens. In Einzelfragen gibt es noch sehr viel mehr auseinandergehende Meinungen. Darum soll es gehen, wenn das Sozialwort ins Gespräch kommt! Es möchte anregen, eigene Meinungen zu bilden, sie zu diskutieren und auszutauschen. In manchen Fragen gibt es bereits Positionen der Evangelischen Jugend oder ihrer Untergliederungen. Lasst sie uns neu entdecken und uns erneut bewusst machen, und lasst uns dort, wo es noch nichts gibt und ein Konsens zu sehen ist, doch auch zu neuen Vereinbarungen und Meinungsäußerungen kommen!

Es könnte der Evangelischen Jugend nichts Besseres passieren, als wenn die Themen und Forderungen des Sozialwortes breit und gerne auch kontrovers diskutiert werden. Dazu will der Text anregen!
Politikerinnen und Politiker positionieren sich in diesem Jahr und im Wahlkampf mit den Inhalten der Programme ihrer Parteien und mit ihren eigenen Schwerpunkten. Das Sozialwort stellt hier eine Fülle an Material  zur Verfügung, um mit ihnen über unsere Fragen, Schwerpunkte und Ansichten ins Gespräch zu kommen. Jugendliche, die dieses Jahr selbst wählen können, können hierin für sich selbst eine Klärung für ihre Wahlentscheidung  finden. Diejenigen, die das Ganze von außen betrachten, sind meist nicht weniger interessiert und bilden sich auch ihre Meinung über das, was da im Kampf um Stimmen und Zustimmung verhandelt wird.

Jugendpolitische Bildung war von jeher ein Teil evangelischer Kinder- und Jugendarbeit. Es ist gerade in den Zeiten der Herausforderungen durch neue politische Konstellationen wichtig, dass wir dafür weiterhin einen Raum offen halten. Leben im Sinne Jesu und evangelische Kinder- und Jugendarbeit  gibt es nie unpolitisch.

Für die eigenen Angebote im Jugendverband benennt das Sozialwort mit seinem Programm daneben auch nach innen die Herausforderung, Ungerechtigkeiten wahrzunehmen und etwas gegen sie zu tun. Wo wirken Unterschiede zwischen Menschen ausgrenzend, wo teilen wir die Botschaft Jesu in Gemeinschaft, die nicht am Mainstream orientiert ist?
Unsere Welt driftet in vielen Bereichen immer weiter auseinander. Ökonomische Gesichtspunkte gewinnen häufig zu große Priorität. Solidarität zwischen Starken und Schwachen bröckelt. „Damit die Welt zusammen hält“ braucht es Gottes guten Geist und seine segnende Kraft. Daneben können wir Menschen in unserer unterschiedlichen Verantwortung ein gelingendes Zusammenleben mit befördern.

Das gemeinsame Sozialwort von aej und BDKJ ist eine Anregung, über solche Verantwortlichkeiten und Möglichkeiten nachzudenken, zu diskutieren, zu streiten, und sich für gute Lösungen einzusetzen. Die Evangelische Jugend kann mit diesem Text in die Gesellschaft hinein wirken, und ihn nach innen in Kirche und Jugendverband zur eigenen Wertediskussion nutzen.
Gut, wenn er viel dazu genutzt wird!

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