Wolfgang Noack: Die Unnormalität

Es muss schlecht stehen um die Gerechtigkeit. Alle debattieren dieses Thema und meinen doch etwas anderes. Der Kanzlerkandidat der Sozialdemokraten predigt nicht gerade sehr konkret den Weg in eine gerechtere Gesellschaft, während die Union kontert: „Vollbeschäftigung“ ist viel besser als „Gerechtigkeit“. „Wer das Wort Gerechtigkeit in den Mund nimmt“, schreibt die Schriftstellerin Jagoda Marinic in einem Gastkommentar für die Süddeutsche Zeitung, „sollte versuchen, die Ungerechtigkeit scharf zu umreißen, bis die Unnormalität, die wir derzeit die Normalität nennen, sichtbar wird.“

Die Unnormalität. Für das Jahr 2021 prognostiziert der Global Wealth Report werde mehr als die Hälfte des Weltvermögens in den Händen von Millionärshaushalten festgesetzt sein. Etwas konkreter? Bitte: Die Deutschen vererben 400 Milliarden Euro im Jahr (der Bundeshaushalt hat 2017 eine Höhe von 329,1 Mrd Euro). Beim Erben zeigt sich, wie ernst es eine Gesellschaft mit Gerechtigkeit meint, da der Staat mit der Erbschaftssteuer Ungerechtigkeiten ausgleichen könnte. Hohe Freibeträge verhindern dies aber. Ein anderes Beispiel: Der Vorstandschef der Deutschen Post verdient am Tag soviel, wie ein Zusteller das ganze Jahr über. „Die Unnormalität, die wir derzeit die Normalität nennen“.

Oder der gerade zu Ende gegangene G20-Gipfel, der sich - aus Angst vor weiteren Migrationsbewegungen - der Situation in Afrika zuwenden wollte und doch nur die Struktur der ungerechten Handelsbeziehungen unangetastet ließ. „Unsichtbare Zäune“ im Mittelmeer sollen jetzt die Lösung bringen. Passend zur Tagung veröffentlicht Entwicklungshilfeminister Gerd Müller ein Buch mit dem Titel „Unfair! Für eine gerechte Globalisierung“. „Sie schuften für 50 Cent am Tag, damit wir unseren Kaffee und unsere Schokolade genießen können“, schreibt Müller dort, „und sollen selbst zurückbleiben in Armut, ohne gerechten Anteil am Wohlstand der anderen?“ Recht hat er! Und weiter?

Wie aber wird Gerechtigkeit? Ach, wenn wir nicht schon alles wüssten, und diese „Unnormalität, die wir derzeit die Normalität nennen“ nicht immer wieder verdrängen würden: Die ungleichen und damit ungerechten Bildungschancen für Kinder aus armen und wohlhabenden Familien, die ungleiche Vermögensverteilung, die Bereitschaft skandalöse Produktionsbedingungen zu akzeptieren und Kleidung, Schokolade oder Kaffee billig zu kaufen. Oder sehenden Auges in die Klimakatastrophe zu rennen, die dann Menschen in vielen Ländern Afrikas die Lebensgrundlage rauben wird (wir nennen sie dann Wirtschaftsflüchtlinge).
„Das Empfinden für Gerechtigkeit oder für die Verletzung dessen, was als gerecht oder moralisch richtig gilt, ist bei Kindern schon früh entwickelt“, schreibt die Hamburger Erziehungswissenschaftlerin Kerstin Michalik in ihrem Beitrag „Das ist gemein ...“. Irgendwann muss diese frühe Einsicht auf der Strecke bleiben und die „Geiz-ist-geil-Mentalität“ setzt sich durch. „Mein Haus, mein Auto, mein Boot“. „Unterm Strich zähl´ ich“, beides Botschaften von Geldinstituten. Nun darf Gerechtigkeit nicht mit Gleichmacherei verwechselt werden, bei der alle wie auf einer nordkoreanischem Fashion-Week zum Verwechseln ähnlich herum laufen. Aber es ist schon interessant, warum eine Werbekampagne, die auf den eigenen Vorteil abzielt und den Geiz als erstrebenswertes Ziel postuliert sich so nachhaltig in den Köpfen festsetzt. Warum ist eigentlich Gerechtigkeit nicht geil? Warum lässt sich für den eigenen Vorteil mit Erfolg emotional werben, wer aber Gerechtigkeit anmahnt, setzt sich schnell dem Vorwurf einer „Neid-Debatte“ aus. Die Veröffentlichungen der „Panama Papers“ im vergangenen Jahr, mit denen Steuerschlupflöcher, Briefkastenfirmen, Steueroasen, Steuerdelikte und die Steuermoral der Reichen aufgedeckt wurden, führte ja nicht gerade zu vorrevolutionären Zuständen. Es ist halt so.

Wer gegen den G 20-Gipfel demonstriert, „ist irgendwie verdächtig, geduldet halt, stört den Ablauf mit irrelevantem Einspruch“ (Matthias Drobinski in der SZ). Und Christoph Butterwegge analysiert im baugerüst-Gespräch die derzeitige Situation als „postmodernes Mittelalter“, als eine „Form des Feudalismus“, weil „hyperreiche Unternehmerfamilien und Finanzmarktakteure“  heute den „größten Einfluss auf politische Entscheidungen ausüben“.

Wo ist Raum für den zornigen Protest? So wenige sind es ja gar nicht, die da mitmachen würden: Oxfam, BUND, greenpeace, Kirchen, Gewerkschaften, die Evangelische Jugend (mit dem Ökumenischen Sozialwort der Jugend. s.S. 44). Nur muss der Protest zorniger, klarer, fordernder werden. Nicht alle, die scheinbar auch für soziale Gerechtigkeit sind, meinen das Gleiche. Konflikte werden da nicht ausbleiben.

„Adalet“ ist türkisch und heißt übersetzt Gerechtigkeit. Mit dem 68-Jährigen Kemal K?l?çdaro?lu haben sich Zehntausende zu einem „Marsch der Gerechtigkeit“ von Ankara nach Istanbul aufgemacht. Es erinnert etwas an den langen Marsch von Gandhi 1930 bei dem er und seine Anhänger mit zivilem Ungehorsam ein Zeichen setzten.

Der „Unnormalität, die wir derzeit die Normalität nennen“ lässt sich nur mit zivilem Ungehorsam begegnen. 

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