Wolfgang Noack: Eine alte, neue Debatte

„Zweifellos steht es 1:0 für die nichtorganisierte Jugend“, schreibt der Hamburger Landesjugendpfarrer und spätere Bischof der Nordelbischen Evangelischen Kirche in Heft 1 des Jahrgangs 1950 der Zeitschrift das baugerüst.
„Wir sind zunächst einigermaßen ratlos angesichts der Statistik. (....) Es ist immer nur ein Fünftel der jungen Menschen, das bei den Jugendbehörden als organisiert registriert ist.“

Hans Otto Wölber, der auch Leiter des von der EKD eingerichteten „Studienkurses für evangelische Jugendarbeit“ wurde, analysiert weiter: „Wir sind sodann einigermaßen ratlos in der Frage, nach dem Stil, in dem Jugendarbeit gemacht werden soll. Es wird zwar ein wenig experimentiert, aber die Antwort auf die Lebensfrage jugendlicher Gestaltung bleibt verborgen.“

„Auf dem Boden der evangelischen Jugend sind wir an dieser Stelle besonders ratlos. Ein Großteil unserer Arbeit geschah nicht eigentlich organisiert, sondern in der Form der losen Gruppen der Gemeindejugend.“

Dann folgt die Frage, die seit 1950 in vielen Konferenzen und Konzeptionsdebatten gestellt wurde: „Stehen wir am Ende der Jugendorganisationen? Werden wir durch eine völlige Wandlung der uns vor Augen stehenden Formen hindurch müssen?“

Der Analyse schließt sich in diesem Artikel eine Reihe von Vorschlägen an, die nicht mehr so ganz in die heutige Zeit passen, ehe Wölber zum Schluss kommt: „Was wir zu ändern haben, ist also nicht die Jugend oder die Jugendorganisationen. Da werden wir es richtig machen - oder es werden uns die Felle wegschwimmen. Was wir zu ändern hätten, ist das Bild, das wir von uns selbst als Jugendleiter haben (hier meinte er die Hauptberuflichen. Anm. Red.).
Wir wollen uns sehr ermutigen zum Experiment. Wir sollten vielleicht die besonderen Chancen erkennen, die wir uns mit der bisherigen Form der losen Gruppen weitgehend in der evangelischen Jugend bewahrt haben. Wir vertuen sie, wenn wir nun nicht mutig zu neuer Gestaltung schreiten.“

Mehr als ein halbes Jahrhundert und etliche Jugendarbeitsgenerationen später, steht die Arbeit in diesem kirchlichen Verband vor ganz ähnlichen Fragen, aber das Ende der Jugendorganisationen ist immer noch nicht erreicht.

Auch wenn weiterhin Millionen von Kindern und Jugendlichen in diesem Land die Angebote der über 200 Jugendverbände und Jugendorganisationen wahrnehmen, ist es richtig und notwendig, sich einigen Fragen zu stellen: Wie wollen Kinder und Jugendliche heute ihre Freizeit verbringen, auch angesichts verdichteter Schulzeit? Welcher Organisationsformen bedarf es dazu? Passen Beteiligungs- und Gremienkultur der Verbände zum Lebensgefühl junger Menschen? Wie kann in temporären oder projektbezogenen Angeboten Partizipation gewährleistet werden?
Für die Evangelische Jugend kommen noch ein paar Themen hinzu: Die Spannung, die sich aus den Polen selbstständiger Jugendverband und kirchliche Nachwuchsorganisation ergibt. Oder die Tatsache, dass in der Praxis sich Konfirmandenarbeit  und Jugendarbeit annähern (manche sagen auch ersetzen) - was der reinen Lehre der Jugendverbandsarbeit widerspricht, sind doch Freiwilligkeit und Partizipation nicht geborene Elemente dieser kirchlichen Kasualie.

Und es kommt noch eine Perspektive hinzu, wenn über Jugendverbandsarbeit diskutiert wird. Als nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Zusammenbruch des Nationalsozialismus die verbotenen oder gleichgeschalteten Jugendverbände ihre Arbeit wieder aufnahmen, förderten dies die alliierten Siegermächte. Insbesondere die Amerikaner erhofften sich von dieser Arbeit Unterstützung für die noch junge Demokratie. Diese Rechnung ging auf. Es waren die Jugendverbände, die sich für Versöhnung mit Israel und Polen engagierten, die die weltweite Gerechtigkeit in den Blick nahmen oder Frieden (Wiederbewaffnung), Ökologie oder Europa auf die Tagesordnung setzten. Die Jugendverbände haben viel zur demokratischen Kultur der Bundesrepublik Deutschland beigetragen und Debatten angestoßen. Das soll und muss so bleiben!

Die Jugendarbeit im Verband wird derzeit an unterschiedlichen Orten mit unterschiedlicher Motivation diskutiert. Aus diesem Grund hat sich die baugerüst-Redaktion entschlossen, nach 2006 (Heft 3), 2007 (Heft 1), 2010 (Heft 1) und 2013 (Heft 2) zu diesem Thema wieder ein Heft zusammenzustellen. Die Autorinnen und Autoren führen eine kritische Debatte über die Jugendverbandsarbeit in dieser Ausgabe. Und wenn Otto Wölber, der Vordenker der Evangelischen Jugendarbeit 1950 in seinem Beitrag zu dem Schluss kommt: „Wir wollen uns sehr ermutigen zum Experiment“, dann klingt das heute in dem Beitrag des aej-Generalsekretärs Mike Corsa ganz ähnlich, der am Ende des Standpunktes schreibt, Jugendarbeit ist ein „eigenwilliges Feld für die experimentelle Suche nach Zukunftswegen“.

Während ich diese Zeilen schreibe, titelt Spiegel online „Ganztagsschulen machen Schüler netter - aber nicht besser“ und berichtet über eine Studie, die zu dem Schluss kommt: Ganztagsschulen verbessern das Sozialverhalten von Schülern, aber nicht deren Leistungen. Bravo! Hauptsache der Kopf wird voll, das ganze Sozialgedöns ist zweitrangig. Wenn das keine Steilvorlage für die außerschulische Bildung ist, bei der der ganze Mensch schon immer im Mittelpunkt steht.

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Weiterlesen im Heft 2/16