Wolfgang Noack: Mauern?

Natürlich kann man einen Zaun oder eine Mauer errichten und versuchen, alles in diesem Land zu schützen, die Menschen, den Lebensstandard, die Kultur, die Religion. Ungewöhnlich wäre das nicht. Schon das chinesische Kaiserreich schottete sich vor über 2000 Jahren mit einer Wallanlage vor den nomadischen Reitern aus dem Norden ab. Heute schützt sich die USA in Richtung Mexiko, Indien baut eine Mauer gegen Bangladesch und in Nordafrika verhindern Zäune den Weg nach Europa.

Ein Gedankenexperiment:
Zwei Kinder erblicken am gleichen Tag das Licht der Welt. Eines nördlich des 38. Breitengrades, also in der Diktatur Nordkoreas, das andere südlich dieser Linie, im kapitalistischen Südkorea. Zwei Kinder, die mit höchst unterschiedlichen Lebensperspektiven aufwachsen werden. Wer würde es dem nordkoreanischen Sprössling verwehren wollen, auch besser leben zu wollen? Fokussiert man den Blick auf den einzelnen Menschen dieses Planeten, kommen einem die Nationalgrenzen ziemlich absurd vor. (Man könnte auch fragen, ob die Schöpfung so gemeint gewesen sei?)

Betrachtet man die Einkommensunterschiede der Menschen (USA: 100 USD pro Tag, Deutschland: 90 USD, Griechenland: 45 USD, Türkei: 22 USD, Nigeria: 5,70 USD, Kenia: 2 USD, Eritrea: 1 USD, Kongo: 0,5 USD. Quelle: OECD) und nimmt die Lebensbedingungen wie Kriege, Folter oder Klimakatastrophen hinzu, wird es immer verständlicher, ja logischer, dass sich Menschen aufmachen, um woanders besser leben zu wollen. Jahrhundertelang funktionierte ja die Abschottung ganz gut, weil Menschen noch nicht wussten, wie gut das Leben woanders sein kann, weil Armeen (auch Kolonialmächte) sie abhielten, sich auf den Weg zu machen oder weil ihnen vielleicht auch der Mut fehlte, ihre Heimat zu verlassen. Das hat sich nun etwas verändert, was weitreichende Konsequenzen haben wird.
 
Auf diese aktuelle Migrationsbewegung bleiben wohl drei mögliche Reaktionen. Erstens: Abschottung, Grenzen dicht, an der EU und zur Sicherheit auch an den nationalen Schlagbäumen. Ein paar dürfen hinein (wenn die Wirtschaft es wünscht), der Rest muss in unwirtlichen Lagern der Türkei oder in nordafrikanischen Hotspots weiter vom guten Leben träumen, wenn sie den Weg zu Wasser oder übers Land lebend geschafft haben. Europa, mindestens aber die Reisefreiheit im Schengen-Raum wären dahin. Mit einem moralischen Dilemma könnten die Menschen hierzulande aber weiter in der Wohlstandsruhe leben.
Zweitens könnte damit begonnen werden für weltweit friedlichere und gerechtere Lebensverhältnisse zu sorgen. Dazu müsste nicht in erster Linie das Freihandelsabkommen TTIP bekämpft werden, sondern zum Beispiel das ungerechte Abkommen zwischen der EU und den afrikanischen Staaten, Waffenlieferungen müssten ein Ende finden und der Handel mit Staaten, die IS oder andere Terrororganisationen unterstützen, wäre auszusetzen. Das könnte langfristig zum Erfolg führen, hätte aber erhebliche Auswirkungen auf den Wohlstand hierzulande (billiges Öl, Exporte etc).
Und drittens könnten die reichen Länder einsehen, dass die Zeit gekommen ist, den Preis für die jahrhundertelange Unterdrückung und Ausbeutung weiter Teile der Welt zu bezahlen. Das hieße dann zusammenzurücken, aufzunehmen und zu teilen. In diesem Dilemma stecken wir und nichts wird mehr so sein, wie vor Anfang 2015.

Leicht wird das nicht

Wer lange Zeit Privilegien genossen hat verzichtet auf diese nicht so ohne Weiteres. Wir stehen vor einer riesengroßen Herausforderung, die erstens Geld kosten wird. Flüchtlinge in dieses Land zu integrieren bedeutet Wohnungen zu bauen, Lehrer einzustellen, Arbeitsplätze anzubieten. Dieses reiche Land ist dazu in der Lage, vielleicht müssen aber auch höhere Steuern oder Abgaben diese Aufgabe mitfinanzieren. Gerechterer Welthandel wird zu höheren Preisen führen müssen. Ein T-Shirt für 4,95 Euro oder irgend ein billiges Elektronikteil raubt Menschen anderenorts die Lebensgrundlage. Die Einstellung von Waffenlieferungen führt zum Arbeitsplatzabbau, der ausgeglichen werden muss.
Zweitens wird Deutschland und Europa darüber debattieren müssen, wie wir hierzulande in der neuen Situation zusammen leben wollen. Ankommende Menschen tragen ein paar Erfahrungen und Ansichten in das gemütliche Wohnzimmer hinein. Nun hat sich in Mitteleuropa über Reformation, Aufklärung, Revolutionen und auch Katastrophen eine Zivilgesellschaft entwickelt, wurden Bürgerrechte und individuelle Freiheiten erkämpft, die konstitutiv und unaufgebbar sind. Ja, dieses Land hat ein Leitbild (nicht zu verwechseln mit der Debatte über die Leitkultur, die Friedrich Merz im Jahr 2000 angestoßen hat und die auf andere herabgeschaute). Nun ist es aber an der Zeit, dieses Leitbild zu ergänzen. Joachim Gauck bezeichnete das neue deutsche Wir einmal als Einheit der Verschiedenen, Adorno äußerte den Wunsch ohne Angst verschieden sein zu können und in Frankreich heißt es „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“. Naika Foroutan, Integrationsforscherin an der Berliner Humboldt Universität, schlägt für ein neues deutsches Leitbild „Pluralität, Solidarität und Gleichwertigkeit“ vor.

Der Diskurs über ein neues „Wir“ muss von der Zivilgesellschaft geführt werden und die Kirchen (mit ihren Jugendverbänden) könnten sich an die Spitze der Auseinandersetzung stellen. Führen wir diese Debatte, die Alternative wäre, Mauern zu bauen.

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Weiterlesen im Heft 1/16