Andreas Mertin: "I have no dream" - Mediale Zukunftsbilder

The American Dream

Im Jahr 1963 schien die amerikanische Bürgerrechtsbewegung an ihrem Ziel zu sein. Nach Jahrzehnten des Kampfes für die Bürgerrechte der Afroamerikaner und gegen die in Amerika gesetzlich legitimierte Rassentrennung hatte US-Präsident John F. Kennedy im Juni 1963 in einer im Fernsehen übertragenen Ansprache verkündet, dass er ein neues Bürgerrechtsgesetz verabschieden wolle, das die Rassentrennung aufheben werde. Gewaltsame Reaktionen von Rassisten waren die Folge. Daraufhin beschloss die Bürgerrechtsbewegung, einen Marsch auf Washington zu veranstalten, der dann zur größten Massenveranstaltung in den USA werden sollte. 250.000 Menschen nahmen daran teil und als letzter Redner sollte Martin Luther King sprechen, als „moralischer Anführer der Nation“. Seine Rede würde das sein, was man von der Veranstaltung im Gedächtnis behalten würde. Und Martin Luther King machte sich vorher viele Gedanken zu seiner Rede. Er befragte seinen Freund Wyatt Tee Walker, denn er hatte bereits verschiedene Ideen, unter anderem die emphatische Formel „I have a dream!“  Walker riet ihm davon ab, diese Phrase zu verwenden, da sie klischeehaft und abgenutzt sei. Diesen Einwand kann man nur verstehen, wenn man bedenkt, dass der amerikanische Traum – the American Dream – schon seit der Unabhängigkeitserklärung 1776 beschworen worden war, ohne jemals für die farbige Bevölkerung gegolten zu haben. Das war die Herausforderung für Martin Luther King. 

Konnte er sich auf eine Ansicht beziehen, die seit Jahrhunderten vorgetragen wurde und gleichzeitig aber niemals für die afroamerikanische Bevölkerung gegolten hatte? Und so beschloss er in der Nacht, die Formel „I have a dream“ aus seiner Rede zu streichen.


The German Angst

Im Blick auf Deutschland gibt es eine Formel, die so ziemlich das Gegenteil zum American Dream darstellt: „The German Angst“. Das hat etwas damit zu tun, dass „Angst“ in einigen anderen Sprachen keinen eigenen Begriff hat und deshalb dort auch das deutsche Wort verwendet wird. Zugleich meint man damit auch, ein besonderes Charakteristikum der Deutschen zu beschreiben. Robert Wienes „Das Cabinet” des Dr. Caligari (1920) ist vielleicht eine frühe filmische Reflexion dieses Tatbestands. 

„Angst“ war tatsächlich etwas, was nach allgemeiner Ansicht das Denken und Träumen der Deutschen gerade auch im 20. Jahrhundert charakterisierte, so dass der „Moment Of Angst” es sogar auf das Titelbild der „Time” brachte. Unsere Träume von der Zukunft sind angstbesetzt. Man kann das am Google Ngram-Viewer nachvollziehen, der den Wortbestand von Millionen gescannter Texte auswertet (books.google.com/ngrams): Danach kommt „The German Angst“ im angelsächsischen Bereich zum ersten Mal in den 20er Jahren in den Blick, erreicht den Höhepunkt in den 50er Jahren und flaut dann ab. Als ein Begriff der deutschen Selbst-Reflexion kommt er in Deutschland dagegen erst Anfang der 80er Jahre auf und hat seitdem eine steile Karriere hingelegt und taucht immer wieder in den öffentlichen Diskussionen auf. Die Deutschen fragen sich in ihren Alpträumen: Müsste man die künftige Geschichte vielleicht als eine der fortgesetzten Angst, als Dystopie beschreiben? 


Utopie und Dystopie

Man könnte nun überlegen, ob diese beiden Gefühlswelten, des progressiven Traums einer egalitären Gesellschaft (nach dem Prinzip Hoffnung) einerseits, und des regressiven Alptraums einer angstgetriebenen Gesellschaft (nach der kontrollierten Gesellschaft à la 1984) andererseits, sich auch medial spiegeln, ob also in Kinofilmen, Kurzfilmen oder etwa Musikvideos, ob also Tendenzen in die eine oder andere Richtung wahrnehmbar sind. 

Wer auf den Überblicksseiten zum Kino das Stichwort „Utopie“ eingibt, bekommt automatisch die Kategorie „Utopien & Dystopien“ zugewiesen. Das deutet darauf hin, dass es keine ausreichende Zahl an Kinofilmen gibt, die man in einer Einzelrubrik „Utopie“ bündeln könnte. Und tatsächlich zeigt ein Blick auf die dann vorgestellten Kinofilme, dass es sich nahezu ausschließlich um Dystopien handelt. Auch in der Wikipedia gibt es nur eine Zusammenstellung der dystopischen Filme und keine der utopischen Filme. Mich hat das zunächst überrascht. Offenkundig spiegelt das cineastische Medienuniversum seit nun mehr als 100 Jahren weniger unsere Hoffnungen, Wünsche und positiven Entwürfe, als vielmehr unsere Ängste und Alpträume. Natürlich gibt es auch die Pretty-Woman-Filme mit dem „Happy-End als Kino-Illusion“, aber das ist noch keine Utopie, sondern Hollywood-Massenware. 

Dystopien dagegen erscheinen als Normalität des Nachdenkens über unsere Zukunft. Wenn es eine Zukunft gibt, ist es eine für wenige Menschen, es ist eine düstere und beengte Welt, oder sie geht gleich ganz unter. Postapokalyptisch existieren allenfalls atomisierte Individuen mit Hunden oder Kaninchen als Ansprechpartnern. Wenn Dystopien traditionell jene Gegenentwürfe zu Thomas Morus „Utopia“ darstellen, weil sie ein negatives Bild der gesellschaftlichen Zukunft zeichnen, dann scheint sich die Kino-Welt an diesen schaurigen Negativ-Perspektivierungen zu erfreuen und es ist um die menschliche Utopie schlecht bestellt. Vielleicht ist die zugrunde liegende Logik aber auch eine andere. So hatte Alexander Kluge schon vor 35 Jahren in seinem Klassiker über die Macht der Gefühle im Film geschrieben: „Alle Gefühle glauben an einen glücklichen Ausgang“. Und dazu muss vielleicht die Stimmung zunächst einmal so sehr dramatisiert werden, so ins Negative gedreht werden, dass am Ende noch das Überleben als Positives erscheint. 

Vielleicht lieben wir unsere dystopischen Träume und Fantasien, weil es uns so gut geht und wir uns fragen, ob es so weiter gehen kann. 
Vielleicht der bedeutendste dystopische Filmzyklus der vergangenen Jahre ist – jedenfalls in den Augen der jugendlichen Fans – Die Tribute von Panem. Allerdings ist ihre Perspektive begrenzt, wie der Filmkritiker Georg Seeßlen schrieb: „Freiheit wird als kantische Konstitution wiederhergestellt, von einem revolutionären Eros, von Utopie ist nicht die Rede. Daher kann „Die Tribute von Panem” auch als calvinistische Sonntagsschullektüre durchgehen. Und trotz allen Aufwands und aller Opulenz verbergen die Filme nicht, dass es sich bei „Die Tribute von Panem” um Erbauungsliteratur handelt – für all die Katniss-Frauen, die verzweifelt ihre Einkaufswagen durch die Supermärkte schieben, die Kinder auf dem Rücksitz des Minivans zu beruhigen versuchen und nicht wissen, ob sie sich auf das abendliche Wiedersehen mit dem Ehemann freuen sollen oder nicht.“ Harte Worte.

Dagegen war Stanley Kubricks 1968 erschienener Klassiker „2001 – Odyssee im Weltraum”, bei aller Skepsis, was der Mensch dem Menschen anzutun in der Lage ist und was dem Menschen durch die Maschine droht, eben auch die Visualisierung eines Menschheitstraumes. Der „längste Cut der Filmgeschichte“, vom Knochen, mit dem der Affe seinen Mitaffen erschlagen hatte, zur Raumstation, die im Orbit kreist, war eben nicht nur die Erinnerung daran, dass fast jeder Fortschritt auch mit Gewalt verbunden ist, sondern auch die artikulierte Hoffnung darauf, dass der Mensch irgendwann einmal jenseits des Jupiter in die Tiefen des Weltraums reisen wird, um zu sich selbst zu finden.

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Foto: Gordon Jonson/Pixabay