Annika Falk-Claußen: Vergesst die Jugendlichen nicht

Solidarität ist ein Begriff, der durch die Coronapandemie wieder in aller Munde ist. Es ist ein Begriff, den jede Autorin, jeder Autor in diesem Heft etwas anders interpretiert. Solidarität ist ein Zusammengehörigkeitsgefühl, gehört zur christlichen Gemeinschaft genauso wie zur Arbeiterbewegung. Solidarität hat Ursprünge im römischen Recht und wurde zur wissenschaftlichen Disziplin in der Soziologie. Hans Diefenbacher und Johannes F. Frühbauer schreiben (S. 16f ) von der Differenzierung zwischen der Con-Solidarität – Solidarität mit einer Gruppe, der man selbst zugehört – und einer Pro-Solidarität – Solidarität mit einer Gruppe, der man selbst nicht angehört. Diese Vielfalt in Begriff und Kontext möchten wir in diesem aktuellen „baugerüst” abbilden.

Solidarität hat viel mit Empathie zu tun. Diese Fähigkeit lernt man in den ersten Lebensjahren, sie muss den Kindern vorgelebt werden. Nur wenn ich nachvollziehen kann, wie es einem anderen Menschen geht und ich mich in diese Person hineinversetzen kann, wird mich die Lage des Anderen auch zum solidarischen Handeln anregen. So formuliert Jürgen Habermas: „Wer sich solidarisch verhält, nimmt im Vertrauen darauf, dass sich der andere in ähnlichen Situationen ebenso verhalten wird, im langfristigen Eigeninteresse Nachteile in Kauf.“

Studien zeigen, dass die nächste Generation – vor allem in Großstädten und insbesondere Jungs – immer rücksichtsloser wird, dass ein Fünftel der Kinder und ein Drittel der Teenager wenig Gemeinschaftssinn zeigen. Doch der ist der moralische Kitt für unsere Gesellschaft. Das muss evangelische Jugendarbeit vorleben und vermitteln.

Ich persönlich hätte mir in dieser Coronapandemie mehr Solidarität mit den Eltern gewünscht, die zuhause Homeoffice (wenn das denn überhaupt möglich war) und Homeschooling bzw. die Betreuung von kleineren Kindern übernommen haben. Es hätte insbesondere mehr Solidarität mit den Müttern gebraucht, an denen (wieder mal) ein Großteil der Carearbeit hängen geblieben ist und die in Sachen Gleichberechtigung eine Rolle rückwärts gemacht haben. Ich hätte mir mehr Solidarität mit Pflegekräften gewünscht – nur Klatschen und eine einmalige Prämie war eindeutig zu wenig! Denn eigentlich hat diese Krise gezeigt, wie wichtig diese Menschen für unsere Gesellschaft sind und dass sie langfristig fair bezahlt werden müssen.

Aber wie viele der Autor*innen schreiben, halte ich es für das Wichtigste, dass wir aus der Pandemie lernen, dass wir in solchen Situationen zwingend mehr Solidarität mit den jungen Menschen leben müssen. Denn die Kinder und Jugendlichen wurden meist schlichtweg vergessen – die Folgen für diese Generation sind noch nicht absehbar. Das macht Kathinka Hertlein in ihrem Standpunkt (S. 42f ) ganz deutlich. Und das führt zum Beitrag von Cornelia Coenen-Marx (S. 10f ), die fordert, dass eine Generationengerechtigkeit neu gedacht werden muss. Wie die Jugendlichen und jungen Erwachsenen den Zusammenhalt der Generationen beurteilen? Wir lassen sie (S. 40f ) selbst zu Wort kommen. Solidarität ist in den vergangenen Monaten auf der einen Seite gewachsen, andererseits hatte man den Eindruck, dass mehr und mehr Menschen nach dem Motto leben „Jeder ist sich selbst der Nächste”. Wolfgang Blaffert hinterfragt in seinem Artikel (S. 25f ) kritisch, wie weit wir mit diesem Grundsatz kommen. Er schreibt von der persönlichen Freiheit, die nur realisiert werden kann, wenn ich meinen Beitrag leiste, das Gemeinwohl zu erhalten.

Immer wieder klingen in den Beiträgen auch biblische Geschichten über Solidarität an. Dieter Heidtmann ordnet den Begriff aus christlicher Sicht im einführenden Artikel gut ein (S. 6f ). Spannend war es, als das Gespräch mit der ehemaligen Bundesjustizministerin Herta Däubler-Gmelin und dem FDP-Bundestagsabgeordneten Pascal Kober (S. 35f ) auf die Solidarität mit den Bundeswehrsoldat*innen kam. Dass man unterscheiden müsse zwischen der Arbeit der Soldat*innen, die vom Großteil der Gesellschaft gewertschätzt wird, und der Akzeptanz von bestimmten Bundeswehr-Einsätzen, die teils sehr kritisch gesehen werden. Die beiden sprechen auch von Solidarität beim Impfen und in der Politik. Ein Interview, das ich Ihnen ans Herz legen möchte. Ich hoffe, dass wir mit diesem Heft zum Nach- und Weiterdenken anregen. Ich wünsche viel Spaß beim Lesen und bleiben Sie gesund!

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