Annika Falk-Claußen: Noch lange nicht am Ziel

Die Generation meiner Mutter ist auf die Straße gegangen, um für mehr Gerechtigkeit für Frauen zu kämpfen. Heute denken viele junge Frauen, der Kampf sei beendet und eine Geschlechtergerechtigkeit sei Standard. Doch wir sind bei diesem Thema noch lange nicht am Ziel angekommen, denn nach wie vor verdienen Frauen in Deutschland 20 Prozent weniger als Männer – für den gleichen Job. Frauen haben nach wie vor Probleme bei der Vereinbarkeit von Familie und Beruf und werden diskriminiert. Doch die Unterschiede zwischen Frauen und Männern sind beim Thema Gender nur ein Aspekt. Es gibt heutzutage so viel mehr Geschlechterbilder. Menschen leben ihr Geschlecht ganz unterschiedlich.

Vor einigen Jahren war es innerhalb der Kirche und Jugendarbeit noch ein Tabu, dass ein junger Mensch darüber gesprochen hat, dass er oder sie nicht sicher ist, Mädchen oder Junge zu sein. Etwas länger ist akzeptiert, dass ein Junge Jungs, ein Mädchen andere Mädchen oder vielleicht beide liebt. Hier ist eine Öffnung und auch ein Umdenken erkennbar. Die Evangelische Kirche in Hessen und Nassau (EKHN) hat vor Kurzem sogar eine Broschüre veröffentlicht, die sich mit Fragen zur Transsexualität auseinandersetzt. Die EKHN ist beim Thema Gendergerechtigkeit vorne dabei. So beschreibt Landesjugendpfarrer Gernot Bach-Leucht in seinem „Standpunkt”, was in diesem Bereich bereits bewegt worden ist und welche Aufgaben noch gemeistert werden müssen.

Ja, es gibt Bereiche, die sich verbessert haben. Andere Bereiche wie zum Beispiel das Gendermarketing haben sich in den vergangenen Jahren verschärft. Von Anfang an wird nach der Geburt beispielsweise gegendert. Die Jüngsten (und ihre Eltern) werden mit Klischees und Stereotypen konfroniert: Mädchen sind gerne rosa Prinzessinnen, Jungs spielen gerne Feuerwehrmann. Warum wir dem Gendermarketing so schwer entkommen und was das mit den Kindern macht, erklärt Maya Götz in ihrem Beitrag. Weiter geht es bei der Kinder- und Jugendbuchliteratur, die teilweise nur so strotzt vor klassischen Rollenbildern. Alleinerziehende? Familien mit zwei Müttern? Kinder unterschiedlicher Hautfarbe? Findet man in den meisten Büchern vergebens. Wie man pädagogische Fachkräfte begeistert, sich mit dem Thema Rollenbilder zu beschäftigen, beschreibt Almut Schnerring. Im Jugendalter folgt dann der Umgang mit sozialen Netzwerken, in denen teilweise gesundheitskritische Schönheitsideale inszeniert werden. Geschlechterrollen sind hier regelrecht gefangen in Klischees.

Das führt oft zu einer Berufswahl, die ebenfalls von Stereotypen geprägt ist. Darüber habe ich mit zwei jungen Erwachsenen gesprochen, die sich in ihren Berufsfeldern behaupten und Jugendlichen Mut machen wollen, für alle Berufe offen zu sein. Immerhin lernen junge Frauen – wie meine Oma damals – nicht mehr Versicherungskaufmann, sondern die Berufsbezeichnungen wurden den Geschlechtern angepasst. Denn Sprache ist das A und O. Wie wichtig gendergerechte Sprache innerhalb eines Jugendverbandes ist, beschreibt Lisa Schaube. Wie sehr die Deutschen an ihrer maskulinen Sprache hängen, zeigte erst kürzlich die Diskussion um einen Gesetzesentwurf der Bundesjustizministerin, der komplett in der weiblichen Begriffsform formuliert worden war. Das – fast ausschließlich mit Männern besetzte – Bundesinnenministerium hielt den Entwurf für „höchstwahrscheinlich verfassungswidrig”.

Innerhalb des Redaktionsteams haben wir uns entschieden, die Schreibweise im „baugerüst” der*m jeweiligen Autorin*en zu überlassen. Deshalb lesen Sie in unserer Zeitschrift sowohl von Lehrkräften, Lehrer*innen, Lehrer_innen oder Lehrer:innen. Wir sind der Meinung, dass jede*r Autor*in ihre/seine Gründe für die jeweilige Schreibweise hat.

Dieses Heft lädt zum Nachdenken und Diskutieren ein. Viel Spaß beim Lesen!

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