Dieter Heidtmann: Ich bin, weil Du bist

„Solidarität ist der Kleber, der die Gesellschaft zusammenhält.“ So wirbt der Malteser-Hilfsdienst um Unterstützung. Dabei stellt er klar: „Und zwar, ohne eine Gegenleistung dafür zu erwarten.“ Tatsächlich bezeichnet „Solidarität“ den Zusammenhalt zwischen den Menschen. Der Begriff leitet sich aus dem lateinischen „solidare“ für „zusammenfügen” ab. Aus Sicht der Malteser hat gerade die Corona-Krise gezeigt, wie wichtig die Solidarität in der Gesellschaft ist.

Solange es noch keine Impfstoffe gab, waren insbesondere die älteren Menschen darauf angewiesen, dass die Jüngeren sich solidarisch zeigen und sich an die Corona- Regeln halten, um eine Übertragung des Virus zu verhindern. Und dies, obwohl das Risiko für sie selbst viel geringer war. Solidarität bedeutete in dieser Situation also, freiwillig auf etwas zu verzichten, weil dadurch andere geschützt wurden. Wir erleben aber auch, dass sich in der Corona-Pandemie nicht alle solidarisch verhalten.

Ein kleiner Teil der Bevölkerung – bemerkenswerterweise nicht die Jüngeren, sondern eher das „mittlere Alter“ – sind eben nicht bereit, das eigene Leben einzuschränken, um andere zu schützen. Ihnen sind die eigenen Interessen wichtiger als die Interessen anderer. Sie berufen sich dabei insbesondere auf das Grundgesetz, das ihnen ihre Freiheit garantiere. Dort taucht das Wort „Solidarität“ tatsächlich nirgends auf. Das Grundgesetz betont die Freiheit der Menschen: „Die Freiheit der Person ist unverletzlich.“ (Art. 2 GG) Gleichzeitig setzt es dieser Freiheit aber auch Grenzen: „Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit.“ (ebd.) Darf man Menschen also zur Solidarität zwingen? Eines ist sicher: Solidarität ist heute eine Überlebensfrage der Menschheit. Wenn wir nicht lernen, weltweit solidarischer zu leben, werden wir nicht überleben!

Das lässt sich gerade anhand der Corona- Pandemie veranschaulichen: Solange nicht (fast) alle Menschen geimpft sind, wird das Virus immer wieder die Möglichkeit haben sich auszubreiten. Und schlimmer noch: Solange die reichen Länder verhindern, dass die Impfstoffe weltweit solidarisch verteilt werden, kann sich das Virus in den Ländern, in denen die Menschen noch nicht geimpft sind, ungehindert weiterverbreiten und immer neue Varianten entwickeln. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis die jetzigen Impfstoffe gegen bestimmte Virus-Varianten nicht mehr helfen und wir der Pandemie wieder schutzlos ausgesetzt sein werden - womöglich mit noch viel gravierenderen Folgen.

Ohne eine weltweite Solidarität der Einzelnen, sich impfen zu lassen und die weltweite Solidarität der Staaten, für eine gerechte Verteilung der Impfstoffe zu sorgen, werden wir das Virus also nicht überwinden. Dasselbe gilt für den Klimawandel. Eigentlich könnte es mir ja egal sein, wenn im Pazifik die ersten Einwohnerinnen und Einwohner ihre Inseln verlassen müssen, weil der Meeresspiegel schon so stark gestiegen ist, dass sie unbewohnbar geworden sind. Und was gehen mich die Dürre in Ostafrika oder die Überschwemmungen in Indonesien und in Indien an? Selbst angesichts der Überflutungen in Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen könnte ich noch sagen: Interessiert mich nicht, ich wohne weit weg vom Hochwasser auf einem Hügel. Warum sollte ich also auf Fleisch in der Ernährung, ein dickes Auto oder den Flug in den Urlaub verzichten, wenn die Auswirkungen weit weg sind oder erst dann gefährlich werden, wenn ich sie schon nicht mehr erlebe?

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Dr. Dieter Heidtmann ist evangelischer Theologe, Politikwissenschaftler und Generalsekretär der Evangelischen Mission in Solidarität (EMS).

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