Interview mit Benedikt Sturzenhecker: „Jugendarbeit muss die Sozialräume zur Kenntnis nehmen."

Ein Gespräch mit dem Hamburger Professor für Sozialpädagogik Benedikt Sturzenhecker über die Räume der Kinder und Jugendlichen, über Konflikte im Sozialraum, über Aushandlungsprozesse und die Unmöglichkeit, dies alles zu ignorieren.

„Jugendarbeit muss die Sozialräume zur Kenntnis nehmen."

Ein Gespräch mit dem Hamburger Professor für Sozialpädagogik Benedikt Sturzenhecker über die Räume der Kinder und Jugendlichen, über Konflikte im Sozialraum, über Aushandlungsprozesse und die Unmöglichkeit, dies alles zu ignorieren.

baugerüst: Herr Sturzenhecker, was ist ein Sozialraum?

Sturzenhecker: Das sind die verschiedenen Orte, die durch das Handeln der Menschen entstehen. Es sind materielle Orte, die durch die verschiedenen lebensweltlichen Perspektiven der Menschen und durch die unterschiedlichen Überlagerungen des Handelns zu einem sozialen Raum, einem Sozialraum werden.

baugerüst: In einem Sozialraum findet also übereinander geschichtetes Handeln unterschiedlichster Gruppen statt.

Sturzenhecker: Ja, und daraus folgt, die dort lebenden Teilkulturen müssen erkennen, dass sie zusammen in einer Kommune, in einer Gemeinde leben, zu der noch andere gehören.

baugerüst: Was haben Kinder und Jugendliche davon, wenn sie ihren Sozialraum kennen?

Sturzenhecker: Kinder und Jugendliche und ihr Sozialraum lassen sich gar nicht trennen, sie sind der Raum, dort, wo sie etwas tun. Die Kinder und Jugendlichen kennen ihren Sozialraum, sie sind die ExpertInnen und die HerstellerInnen dieses Raumes. Sie wissen, was sie dort machen, wie sie sich ihre Räume erobern und sich darin bewegen, wo es durch ihre Anwesenheit Konflikte gibt oder wo sie vertrieben werden.

baugerüst: Wie lernen Kinder und Jugendliche ihren Sozialraum kennen?

Sturzenhecker: In einem Stadtteil oder in einem Dorf gibt es die unterschiedlichsten Räume, in denen Menschen oder Kulturen bzw. Teilkulturen zusammen leben. Sie alle leben in diesem Raum, handeln darin und erzeugen ihn damit. Die Menschen stehen in diesem materiellen Ort, den ich Kommune nenne, miteinander im Bezug und teilen sich diesen mit anderen Kulturen. Dabei geht es dann immer um zwei Grundfragen: nämlich um Arbeit und um Verständigung. Deshalb ist es wichtig, die einzelnen Kulturen, die anderen Beteiligten an einem sozialen Ort zu kennen, um dann gemeinsam in eine kommunale gegenseitige Verständigung treten zu können.

baugerüst: Die Beteiligten müssen wissen, wer die anderen sind.

Sturzenhecker: Ja, sie müssen wissen, wer ist noch hier an diesem Ort, was tun bzw. arbeiten die anderen, wie sehen sie die Welt, wo sind die Konflikte, wo haben wir gemeinsam etwas zusammen zu entscheiden.

baugerüst: Die in einem Sozialraum zusammenlebenden Menschen interpretieren dann diese Kommune durchaus unterschiedlich.

Sturzenhecker: Alle betrachten erst einmal ihre eigene lebensweltliche Perspektive als die normale, als die selbstverständliche. Wenn Menschen aber aus dieser Perspektive andere gar nicht sehen oder sich beschränken und dadurch vermeiden, andere wahrzunehmen, dann kann das zu einem Problem werden.

baugerüst: Werden die anderen nicht wahrgenommen, kommt es zu Konflikten.

Sturzenhecker: Na ja, wenn es zum Konflikt kommt, dann nimmt man sich ja schon wahr. In bestimmten materiellen Orten sind die Konflikte mit anderen nicht vermeidbar. Unsere Studien in Hamburg zeigen, dass Kinder und Jugendliche sehr genau beschreiben können, welche Konflikte es lokal gibt. Sie berücksichtigen die räumlichen Machtverhältnisse, um dort überhaupt handeln zu können.
 
baugerüst: Es gibt dann unterschiedliche Deutungen zur Nutzung des Raumes.

Sturzenhecker: Ja, die eigene lebensweltliche Perspektive enthält immer Antworten auf folgende Fragen: Was kann ich tun? Was mache ich wie mit den anderen? Wo sind Probleme? Was geht hier nicht? Das ist der eigene Blickwinkel, der dann auf andere Perspektiven und andere Handlungen trifft. Es ist aber nicht selbstverständlich, dass das eigene Handeln ein solches Erkennen und Kooperieren mit anderen einschließt.

baugerüst: Geschieht das dann in einem demokratischen Aushandlungsprozess?

Sturzenhecker: Idealerweise schon. Kinder und Jugendliche könnten zum Beispiel feststellen: „ Wir möchten laute Musik hören. Ach, ihr lebt ja auch hier und für euch ist das nervig. Ja, was machen wir denn jetzt?“ Und wenn dann die Anwohner*innen darauf antworten würden, könnte ein Aushandlungsprozess zustande kommen. Stattdessen wissen die Kids zum Beispiel in der Altona Altstadt, dass sie vertrieben werden, Polizei gerufen wird, wenn sie irgendwo auftauchen, noch bevor sie laut sind oder Dreck hinterlassen.

baugerüst: Kinder und Jugendliche bewegen sich in verschiedenen Räumen in ihrem Viertel, in dem Jugendzentrum, in der Schule, das sind doch ganz unterschiedliche Sozialräume.

Sturzenhecker: Ja, es sind immer verschiedene Orte an Orten, in einem Stadtteil, in einem Dorf, in einer Kirchengemeinde. Auch eine Kirchengemeinde hat die verschiedensten Orte.

baugerüst: Sie sagten, der Bezugsrahmen ist zunächst einmal der materielle Ort an dem ich lebe. Aber oft haben Menschen ihre sozialen Räume gar nicht an dem Ort, an dem sie wohnen.

Sturzenhecker: Der Zusammenhang des Sozialen und Räumlichen ist die Basis unseres Lebens. Wenn ich aber gar nicht weiß, in welcher Kommune ich Mitglied bin, wo der Ort ist, an dem bzw. mit wem ich etwas machen kann; wenn ich nicht weiß, wer sind denn die anderen, wen gibt es noch hier, dann ist das durchaus ein Risiko für mich selber, weil man nie weiß, wer mit wem an diesem Ort etwas zu tun hat und wer was entscheidet. Dann wird die Situation total fluide und es herrscht irgendwer, aber man selbst ist daran nicht beteiligt Das wird dann auch zu einem Risiko für die Demokratie.

baugerüst: Gibt es da auch die Verlagerung hin zu virtuellen Sozialräumen?

Sturzenhecker: Es gibt die Gleichzeitigkeit  von virtuellen und realen Räumen. In Jugendzentren habe ich beobachtet, dass viele Kids sich Welten in Minecraft, diesem Spiel aus pixeligen Bausteinen konstruieren. Es gibt auch ein Jugendzentrum, das doppelt existiert, virtuell in Minecraft und in der Welt der realen Körper und Räume. In dem Spiel wird das Jugendzentrum entworfen und in die realen Verhältnisse transportiert. Die Kids nutzen dieses Spiel, um Entscheidungen in der realen Welt umzusetzen, die natürlich etwas komplexer sind, als im Spiel. Real leben die Mädchen und Jungs, die unterschiedlichen Religionen und Kulturen vor Ort zusammen.  Diese Teilkulturen müssen irgendwie miteinander klarkommen. Obwohl die Jugendlichen über soziale Medien kommunizieren, hat die echte Situation vor Ort eine höhere Relevanz. Hier leben meine Freunde, hier müssen wir irgendwie zusammen klarkommen.

baugerüst: Was hat sich verändert?

Sturzenhecker: In der Großstadt beobachten wir eine Tendenz zur Privatisierung. Die Jugendlichen halten sich gar nicht mehr auf der Straße auf, weil es zu riskant geworden ist, vertrieben zu werden. Oder sie ziehen wegen dieser Gefahr umher. Lange bevor sie vor Ort Druck bekommen, sind sie schon wieder verschwunden. Diese Nomadisierung hat aber zur Folge, dass sie Entscheidungen gar nicht mitbekommen. Denn wo und wie entscheidet der Nomade einen Konflikt mit den Sesshaften?

baugerüst: Welche Impulse erhalten Kinder und Jugendliche, wenn sie sich mit ihrem Sozialraum auseinandersetzen?

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