Interview mit Torsten Hebel: "Viele Kinder und Jugendliche wissen gar nicht, dass sie Sehnsüchte haben"

Ein Gespräch mit Torsten Hebel von der blue:boks Berlin über die Sehnsüchte von Kindern und Jugendlichen, über den Wunsch nach Halt und Orientierung sowie über sein Buch, in dem er sich mit der eigenen Geschichte von Sehnsucht und Glauben auseinandersetzt.

"Viele Kinder und Jugendliche wissen gar nicht, dass sie Sehnsüchte haben"

Ein Gespräch mit Torsten Hebel von der blue:boks Berlin über die Sehnsüchte von Kindern und Jugendlichen, über den Wunsch nach Halt und Orientierung sowie über sein Buch, in dem er sich mit der eigenen Geschichte von Sehnsucht und Glauben auseinandersetzt.

baugerüst: Selbstwertmanufaktur nennt sich die blu:boks. Zur eigenen Identität gehört auch die Suche nach Sinn?  Wie wachsen Jugendliche heute auf?

Hebel: Wir in Kirche meinen immer, dass die Jugendlichen nach einem tieferen spirituellen Lebenssinn suchen – teilweise stimmt das schon – aber die vordergründigen Sehnsüchte sind ganz elementar. So erfahre ich das immer wieder hier bei der Arbeit in der blu:boks. Kürzlich haben Kinder für eine Theaterproduktion ein Stück zum Thema Phantasie und Sehnsucht geschrieben. Dort wurden als die zwei häufigsten Bedürfnisse, nach denen sich Kinder sehnen, schlafen und essen genannt. Das hat mir nochmal gezeigt, dass mein Wunsch, bestimmte Werte zu vermitteln erst möglich wird, wenn die Grundbedürfnisse der Kinder und Jugendlichen gedeckt sind.

baugerüst: Gilt das allgemein oder speziell für Brennpunktgebiete wie hier in Lichtenberg?

Hebel: Zumindest in Großstädten hat sich vieles verschoben. Die Sehnsucht nach Sicherheit und Geborgenheit, nach ausreichend Schlaf und Essen, nach Lob und Anerkennung, steht ganz oben auf der Wunschliste. Wenn wir das erfüllt haben, dann können wir gerne über einen höheren Sinn reden. Erst aber müssen diese grundlegenden Bedürfnisse gedeckt werden. In den unteren Einkommensschichten gilt das durchwegs, weiter oben ist eher die emotionale Armut ein Thema.

baugerüst: Gibt es so etwas wie den Durst nach Leben, nach Halt, nach Orientierung?

Hebel: Das kommt später. Die soziale Lebenslage von Kindern ist deutlich nach unten gesackt. Das war vor ein paar Jahren noch anders. Inzwischen können wir in weiten Teilen Deutschlands von Kinderarmut sprechen.

baugerüst: Trotzdem stellen Sie den Selbstwert in den Mittelpunkt.

Hebel: Vor Jahren war auch bei Kindern der unteren Einkommensschichten noch präsenter: Wo bekomme ich Halt? Wo bekomme ich meine Streicheleinheiten? Wo sagt mir jemand, dass ich gut und wertvoll bin. Das ist hier inzwischen nicht mehr der Fall – es kommen die grundlegenden Bedürfnisse verstärkt hinzu!

baugerüst: Wo führt das Ihrer Meinung nach hin?

Hebel: Weite Teile der Bevölkerung fühlen sich abgehängt. Wenn wir so weitermachen und Menschen ohne Lobby in unserer Gesellschaft nicht aktiv unterstützen und beteiligen, dann verraten wir unsere Kultur und es wird bald richtig knallen.

baugerüst: Sie nehmen die jüngsten Entwicklungen in den Blick?

Hebel: Was derzeit an vielen Orten passiert, sind ja nur die Symptome. Die Ursache liegt auch nicht in der Migrationspolitik, vielmehr haben Politik und Gesellschaft die Schwachen aus dem Blickfeld verloren. Das gilt für junge und für alte Menschen gleichermaßen. Zumindest in den Großstädten wächst zur Zeit eine Generation heran, bei der ich mich schon frage, was vermitteln wir als Erwachsene diesen jungen Menschen und was geben die dann wieder an ihre Kinder weiter?
Nehmen wir als Kirche oder als gut situierte Bildungsbürger die Situation in der Gesellschaft wirklich wahr? Mit ein paar zusätzlichen Sozialleistungen wird das Gefühl des Abgehängtseins jedenfalls nicht verschwinden.

baugerüst: Menschen glauben nicht mehr an Recht und Gerechtigkeit?

Hebel: Die Basis eines Staates sind die gemeinsamen Werte. Wenn aber immer mehr Menschen den Eindruck haben, Recht und Gerechtigkeit zählt nicht für alle gleichermaßen, dann müssen wir uns nicht wundern, wenn sich diese Bürger abgehängt fühlen.

baugerüst: Was wären die Konsequenzen?
 

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