Mike Corsa: Jugendverbände? Ja – immer noch und auch weiterhin

Ein Standpunkt in der Debatte

Das baugerüst stellt wieder einmal Jugendverbände und ihr Wirken zur Diskussion. Diese programmatische evangelische Zeitschrift versteht sich als eine Plattform für bedenkenswerte, grundlegende Fragen im Kontext der Gegenwart. Sie will anstößig sein, um eine Auseinandersetzung zu bewirken, um Bewusstsein zu schärfen und um Handeln herauszufordern – in der Evangelischen Jugend und darüber hinaus. Nun also Jugendverbände als ein Thema, das neu zu bedenken aufgefordert wird. Woher kommt aktuell die Frage nach dem Jugendverband?

In der fachwissenschaftlichen Debatte und in der Kinder- und Jugendpolitik brennt eher die Frage nach der Zukunft der Kinder- und Jugendarbeit. Ihr wird scheinbar die Luft abgedreht in ihrer Sandwichposition zwischen Ganztagsschule, dem Druck einer verdichteten Jugendphase und einer Vielzahl von Möglichkeiten der Vergemeinschaftung und der Gestaltung von Zeiten außerhalb der Familie und der Schule. Sie wird gedrängt zu beschreiben, warum es sie überhaupt noch geben soll, was sie leisten kann zur Unterstützung des Aufwachsens. Ihr Markenkern, mit jungen Menschen jenseits von Schule (und an der Schnittstelle) auszuhandeln, was junges Leben sein kann, wird angefragt. Natürlich steht damit auch ein wesentlicher Teil jugendverbandlicher Arbeit zur Disposition – aber nicht ihre Existenz als jugenddominierte Organisation, wie dies noch in den 1990-er Jahren gerne versucht wurde. Die Intention des baugerüsts aufgreifend, schärfe ich mal den Blick.

Evangelisch und Jugendverband

Ja, da gibt es einige sehr grundsätzliche Fragen, zwischen den ideologischen Fronten von Jugendverbandsfürsten und den Protagonisten gemeindepädagogischer Ausrichtung. Sie berühren Punkte wie Organisationsverständnis, Eigenständigkeit und Verfügung über Ressourcen sowie die Grundsatzfrage: was interessiert junge Menschen, wenn sie den Weg in die evangelischer Kinder- und Jugendarbeit finden.

Diese Fragen sind nicht neu und wurden zeitbezogen immer wieder möglichst eindeutig beantwortet (vgl.: Corsa, Gutachterliche Stellungnahme zum grundlegenden jugendverbandlichen Selbstverständnis der Evangelischen Jugend und zum Verhältnis zwischen Evangelischer Jugend und der evangelischen Kirche, 1997). Doch in der Praxis kann bei Kirchenverantwortlichen und bei hauptberuflichen Fachkräften die Gabe einer notwendig differenzierten Betrachtungsweise hinter den Anforderungen zurückbleiben. Aktuell geben beispielsweise die Verwerfungen in der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz (EKBO) viel Anlass für schlechte Laune, weil die Konflikte über die Verfasstheit der Jugend in der Kirche und der evangelischen Kinder- und Jugendarbeit  unterbinden, dass sich die Potentiale der evangelischen Kinder- und Jugendarbeit zum Besten von jungen Menschen und damit auch für die evangelische Kirche entfalten können. Wieder einmal wird nicht verstanden, dass jungen Menschen ein gutes Stück Freiheit zur Selbstbestimmung zugestanden werden muss, wenn die evangelische Kirche ihnen eine tragfähige Heimat bieten will. Der ausbleibende Dialog mit den jungen Menschen in der EKBO, zumal mit denen, die diesen Dialog gerne führen würden, und die offensichtlich unzureichende Anleitung der hauptberuflichen Fachkräfte im Blick auf eine zeitgemäße evangelische Kinder- und Jugendarbeit (s.u.) ist nicht professionell, überaus ärgerlich und folgenschwer für die Zukunftsentwicklung der evangelischen Kirche. Ich kann nur immer wieder die kluge Aussage der EKD Synode von 1978 in Bethel zitieren, die von großer Kenntnis über gelingende Bedingungen für das jugendliche Heranwachsen geprägt ist: „Sie wollen auf ihre Mitverantwortung hin angesprochen werden, in ihrer wachsenden Selbständigkeit freigegeben und in ihrer Einsatzbereitschaft ernst genommen werden“. Der kleine Ausflug in die EKBO mag als ein singuläres Phänomen gesehen werden, doch zeigen die Diskussionen der letzten Jahre in einigen Landeskirchen ganz ähnliche Grundmuster – sicher nicht in immer so krass, doch mancherorts auch erst nach intensiven Interventionen abgemildert. Häufig sind andere Logiken ausschlaggebend bei Entscheidungen, die sich dann aber auf das Feld evangelische Kinder- und Jugendarbeit auswirken, ohne deren Zusammenhänge ausreichend zu berücksichtigen und ohne junge Menschen zu beteiligen. Im Kern geht es immer um eine angemessene Beteiligung junger Menschen am Geschehen in Kirche, Politik und Gesellschaft – Jugendverbände sind dazu ein bewährtes, gut organisiertes Mittel.

Dessen bewusst kann man nur begrüßen, dass das baugerüst die Frage nach Jugendverbänden im evangelischen Kontext aufgreift und zur Diskussion der Bedeutung ihrer Verfasstheit und ihrer Arbeit aufruft. Die Erfahrungen mit dem ersten Durchlauf des bundesweiten Fortbildungskurses für hauptberufliche Mitarbeiter*innen „Evangelische Kinder- und Jugendpolitik mit Wirkung“ haben gezeigt, wie wichtig es auch im laufenden Betrieb noch ist, Grundlagen über evangelische Kinder- und Jugendarbeit als Jugendverband und kirchliches Handlungsfeld zu vermitteln. Es scheint wirklich notwendig, jugendverbandliche Funktion und jugendverbandliches Funktionieren im evangelischen Rahmen aufzuzeigen und zu überprüfen, welche Wandlungsprozesse die gesellschaftlichen Modernisierungsprozesse in der Jugendverbandsarbeit ausgelöst haben.

Evangelische Jugend (verbandsarbeit) – halten wir fest:
 

  • Alles Wirken und Handeln, das sich mit evangelischer Kinder- und Jugendarbeit fassen lässt, ist Ausdruck des Jugendverbands „Evangelische Jugend“. Das begründet sich in den folgenden zwei Bezügen:

    Zum einen entsteht evangelische Kinder- und Jugendarbeit nur, wenn junge Menschen die Angebote maßgeblich mitbestimmen können. Sie kommen freiwillig und haben Alternativen, die freiverfügbare Zeit zu gestalten - heute auch an entlegenen Orten. Sie sind nicht auf Angebote der Evangelischen Jugend angewiesen. Also müssen diese sich als gestaltbar und für den Einzelnen als interessant und relevant erweisen. Es ist deshalb richtig, dass Kinder- und Jugendliche nicht nur die einzelnen von ihnen genutzten Angebote mitgestalten. Die Wirkung evangelischer Kinder- und Jugendarbeit wird maßgeblich erweitert, wenn die gesamte Ausrichtung der Arbeit kontinuierlich von jungen Menschen mitgestaltet wird – Kern eines jugendverbandlichen Selbstverständnisses. Das ist Jugendverband.

    Zum anderen gelten Organisation und Formen der evangelischen Kinder- und Jugendarbeit in der sozialwissenschaftlichen Betrachtung und förderpolitisch als Angebote in jugendverbandliche Strukturen. Sie werden auch förderpolitisch entsprechend zugeordnet. Kurz: Alles was die Evangelische Jugend tut ist evangelische Kinder- und Jugendarbeit und umgekehrt.
  • Die Evangelische Jugend ist gleichzeitig ein Forum von Kindern- und Jugendlichen. Sie ist eine Artikulationsplattform für die Sichtweisen und Interessen der nachwachsenden Generation in der Kirche, in der Politik und in der Gesellschaft. Hier agieren junge Menschen ohne Bevormundung durch kirchliche Verantwortungsträger und Vorgaben von Politik im Rahmen der Grundlagen der Evangelischen Jugend. Sie schafft als dauerhafte eigenständige Struktur systematisch Zugänge in die Erwachsenenwelt und ihre Entscheidungszentren. Das ist Jugendverband.
  • In der Geschichte der Jugendverbände haben sich viele von ihnen zu Nachwuchsorganisationen von zivilgesellschaftlichen Verbänden und Organisationen entwickelt. Für die evangelischen Kirchen gilt dies ebenfalls. Die Evangelische Jugend ist heute neben der Konfirmandenarbeit und neben der Studierendenarbeit eine zentrale Säule des kirchlichen Nachwuchses. Bewerten Nutzer*innen die Angebote der Evangelischen Jugend und ihre Erlebnisse positiv, vermittelt die Praxis der Evangelischen Jugend jungen Menschen die Relevanz des Glaubens für ihr Leben, dann können dort tragfähige Bindungen an die evangelische Kirche entstehen. Auch das ist Jugendverband.
  • Evangelische Jugend bietet in vielfältiger Weise Anlässe und Möglichkeiten für zivilgesellschaftliches Engagement. Junge Menschen übernehmen dabei in unterschiedlicher Form Verantwortung für sich und andere („Jugend führt Jugend“). Sie organisieren Gruppenprozesse, planen, organisieren Projekte, Veranstaltungen und Ferienfreizeiten und führen sie durch. Sie wachsen durch die Verantwortungsübernahme für Tätigkeiten in die Organisation, lernen, ihre persönlichen Interessen und die jeweiligen Anforderungen ihrer Tätigkeit zu vertreten und ggf. gegen andere Interessen und andere Verantwortungsbereiche zu behaupten. Diese Engagementpraxis der Evangelischen Jugend ist ein Erfahrungsfeld für eine gelingende eigenverantwortliche Lebensführung, für eine demokratische Lebensgestaltung und für dauerhaftes gesellschaftliches Engagement. Das ist Jugendverband.


Die Wirksamkeit Evangelischer Jugend hat Vorgaben:
 

  • Sie benötigt einen organisatorischen Rahmen, der abgesichert ist. Wie im Sozialgesetzbuch (§§ 11 u. 12 SGB VIII) müssen im Rechtswerk der evangelischen Kirchen die Grundlagen der eigenständigen Organisation im Rahmen der Kirche beschrieben und gesichert werden. Will Evangelische Jugend wirksam sein, kann sie nicht von der zufälligen Zustimmung bei Wohlverhalten abhängig sein.
  • Sie muss teilhaben können an den Ressourcen von Kirche und Staat. Dafür benötigt sie eine eigenständige Verankerung im Finanzwesen der evangelischen Kirchen. Die zur Verfügung gestellten Finanzmittel müssen von der Evangelischen Jugend gesteuert werden können.
  • Die Evangelische Jugend benötigt hauptberufliche Fachkräfte. Ihre Aufgabe ist, die Rahmenbedingungen zu sichern, junge Menschen zu unterstützen und Impulse für die Auseinandersetzung mit Gott und den Fragen der Welt zu geben.


Wie sieht es mit Realität aus?

Diese Frage zu beantworten ist nicht leicht und geschieht sicher auch in anderen Beiträgen dieser Ausgabe des baugerüsts. Zunächst ist zu sagen, dass immer noch eine beträchtliche Zahl von jungen Menschen die Angebote der Evangelischen Jugend nutzen und mit ihrem freiwilligen, ehrenamtlichen Engagement die überwiegende Mehrzahl der Angebote ermöglichen. Das zeigen die Daten der bundesweiten Statistikerhebung (http://www.evangelische-jugend.de/statistik) und Einzelstudien (Ilg u.a.: Jugend zählt, 2014). Etwas zurückhaltender fällt die Beschreibung bei folgenden Punkten aus:

  • Die Beteiligung von älteren Jugendlichen und jungen Erwachsenen in der Gremienstruktur, dem Rückgrat der Evangelischen Jugend, könnte als rückläufig bezeichnet werden. Schwerpunkt des Engagements ist der örtliche Kontext im Rahmen von Aktivitäten und örtlichen Beteiligungsformen / Gremienstrukturen. Für übergeordnete Gremien muss vermehrt geworben werden.
  • Die aej-Studie „Jugend im Verband“ und das damit verbundene Praxisentwicklungsprojekt mit Mitgliedern der aej haben gezeigt, dass die Evangelische Jugend ein Beteiligungsdefizit zu haben scheint. Überwiegend können jugendliche Mitarbeiter*innen und junge Erwachsene mitgestalten – hauptsächlich aus bildungsorientierten gesellschaftlichen Kreisen, weniger die Kinder und Jugendliche, die die Angebote nutzen. Auf überregionaler Ebene sind in der Regel nur im Delegationsprinzip Ehrenamtliche beteiligt. Dies kann zu einer „Familiarisierung“ führen, wie dies in der Wissenschaft bezeichnet wird – man trifft sich im Kreis der Gleichgesinnten und vertritt die eigenen Sichtweisen als die Verbandsposition. Die Diskrepanz zwischen der Sichtweise der Auserwählten und der vielfältigen Realität der Evangelischen Jugend kann zu unnötigen Selbstbeschränkungen schlechtestenfalls zu Fehlentscheidungen führen, die der verbandlichen Realität nicht mehr angemessen sind.
  • Die Organisationsstrukturen auf überörtlicher Ebene und im Bundeskontext befinden sich in Veränderung. Erhöhte administrative Anforderungen, der Zwang, die Arbeit durch zusätzliche Drittmittel mit sehr unterschiedlichen Förderbedingungen abzusichern, die Notwendigkeit, kirchliche und gesellschaftliche Herausforderungen über eigenständige, drittmittelgeförderte Projekte zu bearbeiten, die Übernahme von zusätzlichen Aufgaben an der Schnittstelle zur Kinder- und Jugendarbeit können Veränderungen in der Rechtsträgerstruktur notwendig machen.
  • Die Praxis zeigt, dass hauptberufliche Fachkräfte für ihre Professionalität mehr Wissen über ihre spezifische Funktion im Jugendverband zwischen ehrenamtlichen Mitarbeiter(inne)n, Kindern und Jugendlichen sowie den evangelischen Kirchen und der Politik benötigen. Kurz gesagt: Die Tatsache, dass professionelles Handeln in der evangelischen Kinder- und Jugendarbeit weniger ein spielpädagogischer Job sondern eine breitgefächerte Managementaufgabe (Personen, Engagement, Finanzen, Netzwerke, pädagogische Prozesse) mit christlich-evangelischer Führung (mit der Aufgabe, das Evangelium kommunizieren zu können) ist, scheint die Ausbildung und die Praxis noch nicht ausreichend durchdrungen zu haben.
  • Wie oben dargestellt, scheinen die Gelingensbedingungen für die Evangelische Jugend nicht (mehr) überall in der verfassten Kirche ausreichend verstanden zu werden.
     

Ausblick

Jugendverbände wie die Evangelische Jugend werden nicht überflüssig. Sie sind und bleiben eine einzigartige und systematische Vergemeinschaftungsstruktur für junge Menschen, um ihre Interessen zusammen mit Gleichaltrigen zu artikulieren und zu vertreten. Für Kirche, Politik und Gesellschaft bleiben sie als systematische und organisierte Struktur ein wichtiger Zugang zur jungen Generation und ein notwendiger Gesprächspartner. Sie geben der jungen Generation ein Gesicht und sind ein Ort, wo Jugend stattfindet – freiwillig, eigenwillig und auch unbequem.

Nicht zu unterschätzen ist das Engagement junger Menschen in den verbandlichen Strukturen für die Stabilität der demokratischen Gesellschaft und ihrer etablierten Organisationen. Sie erfahren dabei die Funktion und das Funktionieren von demokratischer Organisation und der Organisation der Demokratie. In einer Zeit der wachsenden Distanz zur verfassten Demokratie wächst die Bedeutung dieser Funktion von Jugendverbänden. Deshalb fördern Kommunalpolitiker*innen, Regierungen und Parlamente der Länder und des Bundes unabhängig von der politischen Farbe und Provenienz sie immer - manchmal mit knirschenden Zähnen.

Eine wichtige Aufgabe haben Jugendverbände über die Plattform von Kinder- und Jugendinteressen hinaus: die Kinder- und Jugendarbeit braucht mehr Orte der fachlichen Auseinandersetzung und mehr politische Vertretung – aus meiner Sicht eine zentrale Aufgabe für Jugendverbände und Jugendringe, die es zu stärken gilt. Seit Jahren werden Freiräume für junge Menschen beschnitten und anderen Interessen geopfert. Auch der Bestand von Kinder- und Jugendarbeit ist gefährdet – damit würde jungen Menschen ein eigenwilliges Feld für die experimentelle Suche nach Zukunftswegen verloren gehen. 

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Weiterlesen im Heft 2/16