Roger Schmidt: Kindheit entdecken - Mädchen und Jungen in der Hebräischen Bibel und im Neuen Testament

Kinder gibt es schon immer. Aber Phillipe Ariès hat in seinem berühmten Buch „Geschichte der Kindheit“ (L‘enfant et la vie familiale sous l‘ancien régime, Paris 1960) gezeigt: Das Verständnis, was es bedeutet, ein Kind zu sein, verändert sich im Lauf der Geschichte. Nicht anders ist es in der Bibel. In der Sammlung von Schriften, die in einem Zeitraum von mindestens 500 Jahren entstanden sind, finden sich unterschiedliche Bilder der Kindheit. Viele davon sind Menschen von heute fremd, manche abstoßend. Aber an diesen alten Texten lassen sich wichtige Perspektiven auf Kinder und Kindheit ablesen, die auch heute überraschend und hilfreich sein können.
Kinder sind eine zentrale Kategorie in der Hebräischen Bibel (oder dem Altem Testament). 

Gott ist der Gott der Väter (und Mütter) – gerade deswegen ist er der Gott der Kinder. In ihrer kanonischen Fassung ist die Hebräische Bibel die Geschichte einer Familie, die zu einem Volk wird, sich aber immer auf die Ursprungsfamilie zurück bezieht. Der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs ist der Gott ihrer Kinder und wiederum deren Kinder. Aus Sicht der biblischen Autoren ist das nicht einfach ein natürlicher Prozess. Dass immer wieder eine neue Generation von Kindern geboren wird, ist der Beweis, dass Gott zu seinem Bund mit dem Volk Israel steht. Denn es gäbe ja durchaus Alternativen. Völker verschwinden und auch Gott droht durch seine Propheten manchmal die Vernichtung seines ungehorsamen Volkes. Aber letztlich erweist sich Gott doch immer gnädig und die Geschichte des Volkes Israels mit seinem Gott geht weiter.

Kinder sind also die Bestätigung der Bundeszusage Gottes mit seinem Volk und als solche der Inbegriff des Segens. Die Geburt eines Kindes ist der Beweis für Gottes Zuwendung. Das gilt aber eben auch im Negativ: Kinderlosigkeit ist oft als Fluch empfunden. Es gibt eine Reihe von behutsam erzählten Geschichten, die über den Fluch der Kinderlosigkeit sprechen. Nur durch Gottes Eingreifen, das als Wunder erfahren wird, werden die Eltern von Isaak oder Samuel erlöst.


Gott verlangt die blutige Opferung Isaaks

Kinder sind also in der Sicht der Hebräischen Bibel ohne Zweifel zentral, denn sie sichern den Fortgang des Bundes vom Volk Israel mit seinem Gott. Wenn es jedoch um die spezifische Lebensphase geht, die wir Kindheit nennen, werden die Informationen spärlicher. In den vielen Geschichten der Hebräischen Bibel kommen nicht oft Personen vor, die unter 14 Jahre alt sind und als eigene Akteure erkennbar werden. Wenn überhaupt, dann wird an Kindern gehandelt. So ist es in der Geschichte der Opferung des Isaaks (1 Mose 22, 1-19). Isaak wird als Junge beschrieben, der zwar seinem Vater folgen und Fragen stellen kann, ihm aber körperlich noch nichts entgegenzusetzen hat. In dieser aufwühlenden Erzählung hat Abraham endlich nach langer Kinderlosigkeit einen legitimen Erben bekommen, der mit seinen Nachkommen zu großem Volk werden könnte. So wie es Gott versprochen hat. Aber jetzt scheint sich doch alles zu ändern. 
In der Erzählung macht Gott eine Kehrtwende und versucht seinen Anspruch auf Alleinverehrung durchzusetzen, indem er die blutige Opferung Isaaks verlangt. Abraham unterwirft sich Gott. Er scheint die Beziehung zu seinem Gott als wichtiger einzuschätzen als zu seinem Kind: Abraham ist bereit, Isaak für seinen Glauben umzubringen. Erst in der letzten Minute wendet Gott die Tötung Isaaks ab und verändert abermals seinen Befehl. Von Isaaks Gefühlen und seinen Wünschen erfahren wir nichts in dieser Erzählung. Er erscheint als Requisite in einem theologischen Diskurs. Aber er überlebt.
Nicht so glücklich ging es für das Kind in einer ähnlichen und noch altertümlicheren Erzählung aus. Der Richter und Warlord Jeftah zieht in den Kampf gegen die Ammoniter. Vorher jedoch schwört er Gott ein Gelübde: „Gibst du die Ammoniter in meine Hand, so soll, was mir aus meiner Haustür entgegengeht, wenn ich von den Ammonitern heil zurückkomme, dem Herrn gehören, und ich will‘s als Brandopfer darbringen“ (Richter 11, 30-31). Nun kommt aber Jeftah nach seinem erfolgreichen Kriegszug auf dem Heimweg nicht etwa eine Ziege oder ein Huhn entgegen, sondern seine Tochter. Anders als bei Isaak gibt es nun aber keine göttliche Intervention. Das Gelübde wird erfüllt.


Ein wenig anders verhält es sich bei einer anderen biblischen Zentralfigur: Mose. Ihn lernen wir als Säugling kennen und als mögliches Opfer einer brutalen ethnischen Säuberung durch den Pharao von Ägypten. 2. Mose 1,22 zufolge geht der Herrscher von Ägypten brutal gegen das Fremde vor. Alle männlichen Nachkommen der Israeliten sollen getötet werden. Moses Mutter versteckt das Baby in einem wasserdichten Kistchen und setzt es am Ufer des Nils aus. Richtig aktiv wird nun aber Moses große Schwester, Miriam. Auch sie wird noch als Kind beschrieben. Vielleicht gelingt es ihr nur deswegen, von keiner Leibwache zurückgewiesen zu werden und direkt mit der Tochter des Pharaos zu sprechen. Der findigen Miriam gelingt es, dass die Tochter des Pharaos Mitleid mit dem Säugling empfindet und das Baby dann sogar bei seiner eigenen Mutter in Pflege gibt. Ein Mädchen als Retterin von Israel? Der Text gibt diesem Gedanken nicht sehr viel Raum. 


So gibt es hin und wieder Geschichten, in denen Kinder oder zumindest Personen, die Kinder sein könnten, als Akteure auftreten: Da ist noch der junge Samuel in 1. Samuel 3. Der Gott geweihte Junge hört als einziger das Rufen von Gottes Stimme in einer nach göttlichen Prophezeiungen hungrigen Umgebung. Er braucht zwar noch die Hilfe des greisen Priesters Eli, um in der Kunst der Prophetie ausgebildet zu werden. Dann aber ist schon der Jugendliche Anführer einer neuen gottgläubigen Bewegung, die Eli und seine korrupte Familie wegfegt.  
Sehr oft aber geht es den Kindern wie den Frauen in der Hebräischen Bibel. Sie sind offensichtlich Teil der Erzählungen, ihnen wird aber nur wiederstrebend eine echte Rolle zugebilligt. Deswegen ist es wohl fair, sich Peter Müllers Verdikt anzuschließen (Religion in Geschichte und Gegenwart, 4. Auflage, Band III, S. 967): In großen Teilen der Hebräischen Bibel wird die Kindheit nicht als eigenständige Lebensphase begriffen, mit ihrer eigenen Würde und ihrer eigenen Berufung durch Gott. Die Kindheit ist eine Durchgangsphase zum Eigentlichen: dem Erwachsenensein.

Deswegen ist es die Aufgabe der Väter, ihre Kinder in diesem Bundesgedanken und im Glauben an Gott zu erziehen. Der Kern des Gottesglaubens soll dem 5. Buch Mose zufolge täglich wiederholt und eingeschärft werden - bei den Erwachsenen selbst, aber eben auch bei den Kindern: „Und diese Worte, die ich dir heute gebiete, sollst du zu Herzen nehmen und sollst sie deinen Kindern einschärfen und davon reden, wenn du in deinem Hause sitzt oder unterwegs bist, wenn du dich niederlegst oder aufstehst“ (5. Mose 6,6-7). Dass sich diese Weitergabe nicht nur auf Gespräche beschränkt, sondern auch Korrektur und Strafen mit einbezieht, ist unhinterfragt und selbstverständlich. Dazu gehört dann auch die körperliche Züchtigung gegenüber Kindern: „Torheit steckt dem Knaben im Herzen, aber die Rute der Zucht treibt sie ihm aus“ (Sprüche 22,16).

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Foto: Annika Falk-Claußen