Tobias Faix/Tobias Künkler: Warum junge Menschen nicht mehr glauben

Eine Spurensuche sowie erste Konsequenzen für Kirche und kirchliche Jugendarbeit

Eine der großen Herausforderungen kirchlicher Jugendarbeit ist das Alter zwischen 20 und 35 Jahren. Dort ist die Austrittswahrscheinlichkeit aus der Kirche am höchsten. Die Gründe dafür sind vielfältig, ein Auslöser ist dabei die erste Zahlung der Kirchensteuer, der tiefere Grund ist die fehlende Bindung an die Kirche. Keine einfache Frage, die aber noch erweitert werden kann auf die jungen Menschen, die nicht nur die Kirche verlassen haben, sondern ihren Glauben. Warum können oder wollen junge Menschen, die sich einmal selbst als gläubig bezeichnet haben, nicht mehr glauben? 

Dieser wichtigen und selten gestellten Frage sind wir als Forschungsinstitut empirica für Jugendkultur & Religion mit der Studie „Warum ich nicht mehr glaube“ nachgegangen. Darin wurden in einer Online-Befragung über 330 Personen befragt, die einst im christlichen Sinne geglaubt haben und dies nun nicht mehr tun. Deren Angaben wurden ausgewertet und aus ihnen fünfzehn Personen ausgewählt und ausführlich interviewt. 

1. „Ich kann an diesen Gott nicht glauben“: Beschreibung von vier Leitmotiven 

Keine Lebensgeschichte gleicht der anderen und jeder Mensch ist ein einzigartiges Individuum. Dennoch gibt es in den Biografien unserer Gesprächspartner viele Gemeinsamkeiten. Wir haben beim Studdieren und Auswerten der 15 Interviews einerseits gestaunt, wie unterschiedlich die Lebenswege und Erfahrungen waren. Andererseits war es aber auch auffallend, wie viele ähnliche Situationen, Erfah-rungen und Motive in den Erzählungen vorkamen. Es war sogar möglich, in der Geschichte jeder Person ein Leitmotiv auszumachen, das im Prozess des Glau-bensverlustes die wichtigste Rolle gespie-lt hat. Insgesamt fanden wir vier dieser Leitmotive, (1) Moral, (2) Intellekt, (3) Identität und (4) Gottesbeziehung, von denen es jeweils zwei verschiedene Ausprägungen (Typen) gab. 

Dabei ist es wichtig zu bedenken, dass das Leben nicht schematisch ist. Die von uns gefun-denen Leitmotive tauchen so in der Rea-lität fast nie in Reinform auf. Bei jedem Interviewpartner, wie auch bei jedem von uns, ist eine Vielzahl an Einflüssen und Persönlichkeitsfacetten zu beobachten. Doch auch wenn mehrere Aspekte gleichzeitig auftauchten, gab es letztlich immer ein besonders dominantes Mo-tiv, das sich wie ein roter Faden durch die Geschichte zog. Diese Leitmotive sollen nun exemplarisch etwas genauer beleuchtet werden.

a) „Christen sind nicht das, was sie singen“ – das Leitmotiv Moral

Die Moral, also die Frage nach der rich-tigen Lebensführung, ist ein zentrales Motiv in allen Gemeinschaften, die sich auf gemeinsame Werte berufen und in einer mehr oder weniger verbindlichen Form Leben teilen möchten. Gerade in Kreisen, die Wert auf ein bewusstes Leben als Christen legen, wird sie oft zentral betont. Das heißt, dass die Än-derung, die im Leben durch den Glauben angeregt wurde, auch im Handeln sichtbar werden soll. Dies kann sich in bestimmten Verhaltensweisen äußern – sowohl in dem, was man tut, als auch in dem, was man nicht mehr tun sollte. Diese an sich neutrale Tatsache kann in der Praxis immer wieder zu Problemen führen. So werden zum Beispiel Erwartungen nicht klar ausgesprochen, obwohl sie von allen unbewusst wahrgenommen werden.Häufig passen dann Einzelne ihr Verhalten aufgrund der Dynamiken in der Gruppe daran an. 

Es kann auch vorkommen, dass von der Leitung oder anderen Personen in Machtpositionen die Maßstäbe für das richtige Verhalten klar kommuniziert werden. In manchen Fällen werden aus diesen Vorstellungen und Leitbildern dann jedoch Gesetze, die als einengend empfunden werden. Zuletzt kann Moral, gerade auch in Verbindung mit Macht, dazu eingesetzt werden, Menschen zu kontrollieren und ihr Verhalten zu manipulieren. Nicht in allen Fällen geschieht dies allerdings be-wusst und mit voller Absicht. In unseren Interviews tauchten im Zusammenhang mit dem Leitmotiv Moral vor allem die moralischen Vorstellungen in ihren christlichen Gemeinden auf.Dies betraf nicht nur das alltägliche Leben mit seinen vielen großen und kleinen Ent-scheidungen, sondern auch den Glauben selbst. 

Aus diesen Erfahrungen kristallisierte sich bei der Analyse der Gespräche der Typ der Eingeengten heraus. Beispielsweise berichtete Claudia: „Christen reden von Freiheit. Gott und Glaube machen frei, aber gleichzeitig stellen sie so viele Regeln und Gesetze auf, die man alle einhalten muss, weil man sonst nicht mehr bei Gott ist.“ Beim zweiten Typ, den Verletzten, kam die Moral – und mit ihr häufig auch Macht – nicht nur einengend an die Persönlichkeit heran, sondern überschritten diese Grenzen sogar. In den Interviews tauchten alle möglichen Formen von Übergriffen und Verletzungen in Gemeinden und durch Christen auf. Diese waren teils geistlich, teils psychisch, aber auch körperlich und sexuell. Letztlich kann man zum Leit-motiv Moral festhalten, dass immer das Verhalten von anderen Christen und der jeweiligen Gruppe oder Gemeinde einen entscheidenden Einfluss darauf hatte, dass die betreffenden Personen nicht mehr glauben (können). 

Der Verlust bzw. das Ablegen des Glaubens geht einher mit einem Bruch mit den betreffenden Personen und dient auch dazu, wieder die Souveränität über das eigene Leben zu erlangen. 

b) „Ich habe viel gekämpft und lang-sam merkte ich: Das passt alles nicht zusammen.“ Das Leitmotiv Intellekt

Das zweite Leitmotiv hat weniger mit anderen Christen als mit einer inneren Auseinandersetzung zu tun. Die Betroffenen zweifeln an der christlichen Lehre, an einzelnen Glaubensaussagen, ihr christliches Weltbild gerät in Konflikt mit natur- oder geisteswissenschaftlichen Erkenntnissen. Mit der Zeit gelangen sie an einen Punkt, an dem sie den Glauben nicht mehr mit ihrem Denken in Übereinstimmung bringen, ja nicht einmal als getrennte Systeme nebeneinander stehenlassen können. Die beiden Gruppen, die sich bei diesem Leitmotiv herausschälten, sind die Zweifelnden und die Grübelnden. 

Während die Zweifelnden in einem gedanklichen Konflikt stehen, wie sie die christliche mit einer zweiten Weltsicht in Verbindung bringen sollen, sind die Grübelnden in ihrem Zweifel eher auf sich selbst bezogen und hinterfragen stärker ihre Erfahrungen und Erkenntnismöglichkeiten und wie diese mit bestimmten Lehraussagen zusammenpassen. So hat es zum Beispiel Nicolo erlebt. Er hat sich mit dem Thema Glaube und Atheismus auseinandergesetzt und kam zu dem Schluss: „Ich habe weiter als Christ gelebt und habe eigentlich mit niemandem darüber geredet. Ich wollte das mit mir und mit Gott ausmachen. Ich habe viele Bücher gelesen und viel in der Bibel gelesen, über Monate ging das so. Und ich habe viel gekämpft und langsam, langsam merkte ich: Das passt hier nicht. Hier ist was falsch. Und dann habe ich gesagt: Ich glaube nicht mehr an Gott.“ 

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Foto: stux/Pixabay