Seit einigen Jahren ist die Wiederkehr der Religion in aller Munde. Ob diese Diagnose zutrifft und was genau damit eigentlich gesagt sein soll, ist umstritten. War denn die Religion je ganz aus unserer modernen Gesellschaft verschwunden? Der Befund fällt zwiespältig aus. Einerseits sprechen wir seit langem von der Säkularisierung als Kennzeichen der Moderne, andererseits kann man schwerlich behaupten, die Moderne sei eine Epoche der Religionslosigkeit. Einerseits erleben wir die massive Rückkehr der Religion in den öffentlichen und politischen Raum, andererseits eine um sich greifendes Desinteresse an Religion und einen massenhaften Gewohnheitsatheismus.
Säkularisierung ist nicht mit dem Verschwinden jeglicher Religion zu verwechseln. Sie bedeutet zunächst nur, dass Religion ihre Vormachtstellung im öffentlichen Raum verliert und zur Privatsache wird. Historisch betrachtet lässt sich der Prozess der Säkularisierung an der Einführung der Ziviltrauung auf dem Standesamt oder am Ende der geistlichen Schulaufsicht ablesen. Auch der moderne Sozialstaat hat zwar seine Wurzeln in der christlichen Nächstenliebe und Armenpflege. Diakonie und Caritas sind aber heute ein Player neben anderen Trägern sozialer Arbeit, und Sozialleistungen sind nicht mehr lediglich ein Akt der christlichen Barmherzigkeit, sondern ein staatlich garantierter Rechtsanspruch. Und so sind auch neben die unterschiedlichen Angebote kirchlicher Jugendarbeit längst andere Formen von Kinder- und Jugendarbeit getreten.
Manche Religions- und Sozialforscher halten die Säkularisierung überhaupt für einen Mythos. Sie sprechen lieber von der Privatisierung, Individualisierung und Pluralisierung von Religion. Gern wird auch darauf hingewiesen, dass Europa in Sachen Säkularisierung einen Sonderfall darstellt. Gelegentlich hat man von Europa als Kältepol und Nord-
amerika als Wärmepol der Religion in der westlichen Welt gesprochen. Nicht nur in Nordamerika, sondern auch in Südamerika und auf den übrigen Kontinenten gibt es ein reges religiöses Leben. Während die Kirchen in Europa kontinuierlich Mitglieder verlieren, wächst das Christentum in anderen Gegenden der Erde, vor allem das charismatische.
Neben anhaltenden Säkularisierungstendenzen gibt es innerhalb und außerhalb Europas gegenläufige Tendenzen zur Revitalisierung traditioneller Religionen. Im Vordergrund der öffentlichen Wahrnehmung stehen vor allem der wiedererstarkende Islam und die Angst vor islamistischem Terror. Man kann von einer Repolitisierung der Religion sprechen, die zu Bestrebungen nach einer Retheologisierung und Klerikalisierung der Politik führt. Das gilt übrigens nicht nur für den politischen Islam, sondern auch für manche Spielarten eines konservativen Christentums und eines christlichen Fundamentalismus. Tendenzen zur Repolitisierung des Christentums zeigen sich beispielsweise, wo zur Verteidigung des christlichen Abendlandes aufgerufen und gegenüber tatsächlichen oder auch nur behaupteten Bestrebungen zur Islamisierung Europas ein wehrhaftes Christentum gefordert wird.
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