Waldemar Pisarski: In der Sehnsucht bleiben

Die Sehnsucht kennen

Nur Kinder kennen sie nicht. Sie kennen sie nicht, weil Sehnsucht erst dort entsteht, wo jemand über sein Leben nachzudenken beginnt. Wo jemand das Gefühl hat: Das kann doch nicht alles gewesen sein. Das Gefühl: Das muss doch noch irgendwo hingehn. Wo jemand die Frage stellen kann: Was wäre wenn...? Erst im Jugendalter wird diese Frage lebendig, sehr lebendig sogar. Ja, oft genug gewinnt sie dann einen drängenden Ton. Vierzehn- und Fünfzehnjährigen fällt es jedenfalls nicht schwer, Sehnsüchte zu benennen. Im Mittelpunkt steht dabei immer die Sehnsucht gesehen, wahrgenommen zu werden. Und fortan geht das Thema mit uns und wandert durch den Lebenszyklus. Bis hin in den Abend. Der Tod taucht am Horizont auf und die Sehnsucht nach einem Sterben in Würde und im Frieden, einem Ende ohne Einsamkeit und ohne Schmerzen und mit dem Gefühl, dass alles geordnet ist.

Ja, die meisten Menschen wissen, was Sehnsucht ist und wie unterschiedlich sie sich äußern kann. Viele unserer Sehnsüchte sind auf die eigene Person  gerichtet. Ich möchte freier sein, geduldiger, gelassener. Möchte mich nicht in jeden Streit hineinziehen lassen. Viele Sehnsüchte haben mit Beziehungen zu tun. In der Partnerschaft, in der Familie, am Arbeitsplatz, in der Gemeinde. Andere Sehnsüchte reichen darüber hinaus und weisen auf das Ganze hin. Die Sehnsucht nach einer Gesellschaft, in der es gerecht zugeht, nach einer Welt, in der Solidarität und Frieden herrschen. „Ich bin Leben, das leben will, in der Mitte von Leben, das leben will,“ heißt es bei Albert Schweitzer.

Manchmal bringen wir uns ganz bewusst in eine sehnsüchtige Stimmung. Wir wählen eine bestimmte Musik aus, sehen uns bestimmte Filme an, blättern in einschlägigen Magazinen oder surfen gezielt im Netz. Manchmal gehen wir noch einen Schritt weiter. Vor unserem inneren Auge lassen wir dramatische Situationen entstehen, die ein Stück Sehnsuchtserfüllung verheißen. Eine junge Frau stellt sich vor, ernsthaft erkrankt zu sein und malt für sich aus, wie sie von allen Seiten Aufmerksamkeit und Mitgefühl bekommt. Ein Mann in der Lebensmitte sieht sich in einem schlimmen Unfall, und endlich, endlich!, ist er nicht mehr nur einer unter vielen, einer, der nicht zählt, austauschbar und anonym, sondern einer, um den sich alle sorgen und kümmern.

Noch einen Schritt weiter kann es gehen. Manche stellen sich vor, einfach tot umzufallen. Die Sehnsucht, sich nicht durch dieses Leben mühen zu müssen. Mit all seinen Anforderungen und Konflikten und Rivalitäten. Es könnte doch Schluss sein mit dem ständigen Stress, Schluss mit der permanenten Überforderung. Es könnte doch auch ein Ende haben. In der Regel ist dies eine Übergangsvorstellung, Gott sei Dank, die sich wieder auflösen wird.


Die Sehnsucht verstehen

.......

Weiterlesen im bg 4/18