„Weiße wie Schwarze Menschen haben Rassismus in weißen Dominanzgesellschaften mit der Muttermilch aufgesogen.”

Ein Gespräch mit der Theologin und Autorin Sarah Vecera über ihren Traum von einer Kirche ohne Rassismus, ihre persönlichen Erfahrungen mit Benachteiligung und warum sie an einer antirassistischen Kinderbibel arbeitet.

baugerüst: Wie definieren Sie Rassismus?

Sarah Vecera: Wenn Vorurteil, Macht und Rassenkonstrukt zusammenkommen, kann man von Rassismus sprechen. Wir haben alle bestimmte Vorurteile gegenüber bestimmten Menschen in unseren Köpfen. Es ist erstaunlich, dass wir die erlernt haben, ohne dass wir wissen, wo wir sie erlernt haben. Wenn man in eine siebte Klasse gehen würde und weiß, dass auf dem Lehrplan steht, dass Siebtklässler*innen die Hauptstädte der Bundesländer kennen müssten, würde man keine hundertprozentige Trefferquote erreichen. Würde man aber nach den Vorurteilen gegenüber einer bestimmten Gruppe fragen, würde man eine hundertprozentige Trefferquote bekommen. Diese Vorurteile alleine sind noch kein Rassismus. Wenn sie zusammen kommen mit systemischem  Machtmissbrauch und struktureller Benachteiligung auf dem Arbeitsmarkt sowie einem Rassenkonstrukt – das heißt einer Verfremdung von Menschen, die wir zu „Anderen“ („die Muslime“ oder „die Ausländer“) machen. Wenn das drei zusammenkommt, kann man von Rassismus sprechen. Rassismus hatte seine Hochphase in der Aufklärung. Und diente zu der Zeit als Legitimationstrick, weil man die Werte der Aufklärung auf der einen Seite nicht hochhalten konnte und sagen konnte: Gleichheit, Freiheit, Geschwisterlichkeit, der Wert der Menschen steht über allem. Und auf der anderen Seite wusste man, dass Menschen kolonial ausgebeutet und versklavt werden. Das ging nicht zusammen, deshalb brauchte man eine Art Legitimationstrick, um zu sagen, dass diese Werte für Menschen gelten. Aber nur für „richtige“ Menschen, die 100 Prozent Mensch sind. Und dann gibt es „die Anderen“, das sind die Schwarzen, die Roten und die Gelben. Auf die treffen diese Werte nicht ganz so zu, denn die sind nicht so ganz Mensch in der Vollkommenheit der Weißen. Und daraus ist das Rassenkonstrukt entstanden. Seit 1945 wissen wir alle, dass es keine biologischen Rassen gibt. Aber es gibt Kulturrassismus oder Neorassismus, dass wir zwar nicht mehr den Begriff der Rasse verwenden, aber den Begriff der Kultur verwenden als die Quasi-Rasse.

baugerüst: Sie selbst schreiben von Menschen of Color. Ist das ein Begriff, bei dem Sie sich nicht diskriminiert fühlen?

Vecera: Es gibt viele Begriffe, mit denen ich als Jugendliche in Berührung gekommen bin, die sich immer komisch angefühlt haben. Aber ich wusste nie warum, das waren die Begriffe farbig, dunkelhäutig, Ausländerin. Das hat sich nie stimmig angefühlt. Lange Zeit wusste ich nicht warum, aber irgendwann habe ich Worte dafür gefunden. Ich kann sagen, dass der Begriff farbig im Deutschen einen rassistischen Hintergrund hat. Das war eine rassistische Fremdbezeichnung für Menschen, die nicht weiß waren. Und „nicht weiß“ klingt ja auch, als würde mir irgendetwas fehlen, als hätte ich ein Defizit. Das zeigt auch, dass weiß der Standard ist und mir fehlt etwas, um diesem Standard zuzugehören. Natürlich ist es für viele, vor allem ältere Menschen, schwierig, einen englischen Begriff zu haben. Aber das zeigt nur, wie sehr wir am Anfang der Debatte stehen. Wir reden bei Rassismus von einem strukturellen, historisch herangewachsenen Unterdrückungssystem, das 500 Jahre alt ist. Wir reden in Deutschland im Mainstream seit der Ermordung von George Floyd gut zwei Jahre darüber. Es ist klar, dass wir da noch relativ am Anfang stehen. Vielleicht wird es in zwei Jahren einen deutschen Begriff geben, der aber eine Selbstbezeichnung sein muss und keine Fremdzuschreibung. Er muss eine Empowerment-Geschichte haben und keine rassistische Geschichte. Mit dem Begriff People of Color (PoC)/Menschen of Color fühlen sich die meisten Menschen in Deutschland wohl. Man kann auch noch von Schwarzen Deutschen sprechen, wobei da Menschen wie mir häufig gesagt wird: „So ganz Schwarz bist Du ja auch nicht!“ Wo ich dann frage, wer denn „ganz Schwarz“ sei.

baugerüst: Sie schreiben Schwarz groß und weiß kursiv. Können Sie uns die Beweggründe dafür erläutern?

Vecera: Es soll deutlich machen, dass es nicht um tatsächliche Farben geht. Es ist von Anfang an in der Erfindung von Menschenrassen ein großer Abstraktionsprozess erforderlich gewesen. Der funktionierte, weil Menschen daran glauben wollten. Und schon kleine Kinder wissen und erlernen, wer ist eigentlich weiß und wer ist nicht weiß. Die lernen das Konzept der Hautfarbe schon im Alter von drei bis sechs Jahren. Meinen Kindern habe ich eine blonde, weiße Puppe und eine Schwarze, schwarzhaarige Puppe vorgehalten und habe gefragt, wo die Unterschiede liegen. Mein dreijähriger Sohn sagte, die eine ist blond. Da sagt meine sechsjährige Tochter zu ihrem Bruder: „Mensch, bist du blind, die eine ist weiß und die andere Schwarz.“ Das hat er aber mit drei Jahren noch nicht gelernt. Im Alter von etwa sechs Jahren lernen sie auch, wer welche Rolle in unserer Gesellschaft trägt – ohne dass ihnen das jemand sagt. Sie sehen, wer in der Kirche auf der Kanzel steht und wer im Gemeindehaus die Toiletten putzt.

Aber zurück zur Frage: Weiß kursiv und Schwarz groß vor allem darum, um deutlich zu machen, dass es nicht um tatsächliche Farben geht. Schwarz groß, um den Empowerment-Effekt drin zu haben, um das Machtverhältnis umzudrehen. Und weiß nicht groß, sondern kursiv, um deutlich zu machen, es geht nicht um eine Farbe, sondern darum, die Schräglage der Machtverhältnisse umzudrehen.

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Sarah Vecera, Jahrgang 1983, ist Theologin, Autorin und stellvertretende Leiterin der Abteilung Deutschland der Vereinten Evangelischen Mission (VEM) sowie und Bildungsreferentin mit dem Schwerpunkt „Rassismus und Kirche“. Sie studierte Theologie, Sozialpädagogik und Religionspädagogik in Kassel und Bochum, ist ordinierte Prädikantin der Evangelischen Kirche im Rheinland (EKiR) sowie Mitglied im Präsidium des Deutschen Evangelischen Kirchentags. Kürzlich erschien ihr Buch „Wie ist Jesus weiß geworden? Mein Traum von einer Kirche ohne Rassismus“.

Mit ihr sprach Annika Falk-Claußen.

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