Wolfgang Grodd: Sehnsucht und Gedächtnis

Nur wer die Sehnsucht kennt, weiß was ich leide

Die Sehnsucht beschreibt einen seelischen Vorgang, der mit Leiden einhergehen kann und zugleich als eine Art Sucht verstanden wird. Bemerkenswerterweise gibt es keine adäquate Übersetzung des Begriffs der Sehnsucht im Englischen und auch die Umschreibung mit Nostalgia im Französischen und Italienischen trifft direkt nur auf den zweiten Teil des griechischen Wortes „algia“ als Schmerz, Leid oder Trauer (2) zu. Allerdings handelt es sich bei der Sehnsucht nicht einfach um ein Leiden oder eine Sucht mit einer körperlichen Abhängigkeit, sondern um ein geistig-seelisches Verlangen. Der erste Teil des Wortes, das Sehnen, weist auf eine spezielle Form der Erinnerung hin und ist die eigentliche Quelle der Sehnsucht. Die Erinnerung aber ist eine Leistung unseres Gedächtnisses und speist sich aus bewussten und unbewussten Sinneseindrücken und Empfindungen, die wir in der Auseinandersetzung mit der physischen und sozialen Umwelt seit der frühen Kindheit in uns ansammeln.

Nun gibt es aber nicht nur ein Gedächtnis, sondern eine Reihe unterschiedlicher Gedächtnissysteme, von denen das semantische Gedächtnis (Wissensgedächtnis) und das episodische Gedächtnis (biografische Gedächtnis) als Teile des deklarativen Gedächtnisses von besonderer Bedeutung sind, da ihre Inhalte langfristig aufbewahrt werden und sie dem Bewusstsein zugänglich sind (3). Hierbei speichert das semantische Gedächtnis Tatsachen und Ereignisse, während im episodischen Gedächtnis Episoden, Ereignisse und Tatsachen aus dem eigenen Leben angesammelt werden. Daher wird Letzteres auch als autobiografisches Gedächtnis bezeichnet (4). Das Besondere am autobiografischen Gedächtnis ist, dass es nur dem Menschen zu Eigen zu sein scheint! Damit unterscheidet das autobiografische Gedächtnis den menschlichen Geist von dem anderer Primaten und Säugetieren: Es ist die zentrale Instanz, die zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft unterscheiden kann und das Vermögen besitzt „'Ich' sagen zu können und damit eine einzigartige Person zu meinen, die eine besondere Lebensgeschichte, eine bewusste Gegenwart und eine erwartbare Zukunft hat" (5).

.......

Weiterlesen im bg 4/18