Wolfgang Noack: Musste Narziss sterben?

Wenn Narziss wirklich bei dem Versuch sein eigenes Spiegelbild zu umarmen in den Teich fiel und zu Tode kam, hätte ihm vielleicht eine Selfiestange das Leben gerettet. Diese Hilfsmittel, um aus der Entfernung einer Armlänge sich überall ins rechte Licht zu setzen, ist zur Inkarnation der Ich-Gesellschaft geworden. Menschen stehen vor den berühmtesten Bauwerken dieser Erde, sitzen in Cafés an den schönsten Plätzen der Welt oder erstürmen die Gipfel höchster Berge, kaum angekommen, richten sie das Handy auf sich selber und es macht: klick. „Schaut alle her, wo ich bin.“ Nun mag es ja durchaus schöner sein, statt eine Postkarte vom Kolosseum, den Pyramiden oder dem Taj Mahal zu erwerben, die jeweilige Attraktion mit dem eigenen Gesicht aufzuwerten - wenn nur diese Selfiestangen die Landschaft nicht so verschandeln würden. Aber vielleicht ist es ja auch nur eine temporäre Manie, die vergeht, wenn die Menschen keine Lust mehr haben, als Privat-Parparazzis durch die Welt zu tingeln und ihr Innerstes nach außen zu kehren. Das Selfie, so der Ausstellungsmacher von „Ego Update“ Alain Bieber, „ist ein Ich auf der Suche nach dem Wir.“ Man fotografiert und dokumentiert sich selbst, um es mitzuteilen, und „ist ein bisschen süchtig nach der Resonanz und den Likes“ in den sozialen Medien.

Das Ich süchtig nach Resonanz und Likes? Der Leiter der Hamburger „Stiftung für Zukunftsfragen“, Horst W. Opaschowski, weiß, dass das Zeitalter der Ichlinge zu Ende geht. „In der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise ist kein Platz mehr für Egoisten und Narzissten. Das „Ich“ hat ausgedient. Und „Wir“-Gefühle werden wichtiger.

Unbestritten erfreut sich hierzulande die Zivilgesellschaft über eine gehörige Portion Wir-Gefühl, auch kann man sich über die Bereitschaft zu bürgerschaftlichem Engagement und ehrenamtlicher Tätigkeit nicht beklagen. Aber davon zu sprechen, dass das Zeitalter der Egoisten und Narzissten zu Ende ginge, ist dann wohl doch eine sehr steile These.
Auch muss bei dieser Debatte zwischen Egoismus und Egozentrismus unterschieden werden. Während bei ersterem eher eine moralische Bewertung zu Grunde liegt, betrifft der Egozentrismus die eigene Wahrnehmung.

Egozentrismus, so heißt es im Lexikon der Psychologie seien Einstellungen und Verhaltensweisen, die darauf schließen lassen, dass die eigene Person als das Zentrum allen Geschehens empfunden und alle Ereignisse nur in ihrer Bedeutsamkeit für diese eigene Person bewertet werden. Der Entwicklungspsychologe Jean Piaget sieht die Stufe der Wahrnehmung des Selbst und der Umgebung bei einem Kleinkind mit etwa vier Jahren erreicht, die es im Normalfall auch bald wieder hinter sich lässt.
Manche verharren in dieser Haltung und bleiben gefangen in der Schwierigkeit, sich die Welt aus der Sicht eines anderen vorstellen zu können.

Vor Jahresfrist beklagte Heidi Keller in der Wochenzeitschrift „Die Zeit“, dass die Kleinkinder zu „Ichlingen“ erzogen werden. Kinder, so Keller, seien heute einem endlosen Strom an Fragen und Entscheidungen ausgesetzt: „Wo willst du sitzen? Was willst du spielen? Willst du heute gar nicht spielen?“ Ebenso ist Lob ein integraler Bestandteil kindgerechter Pädagogik: „Toll machst du das! Super! Was du schon alles kannst!“ Kinder, die gewohnt sind, ständig im Mittelpunkt zu stehen, brauchen die Aufmerksamkeit und Zuwendung anderer.
Nun ist ja überhaupt nichts dagegen einzuwenden, Kinder zu starken und selbstbewussten Menschen zu erziehen und Resilienz erzielt man nicht mit Vorschriften und Kritik, aber wie kommt das „Wir“ ins Spiel?

„Ich komme aus einer Zeit“, schreibt Fulbert Steffesky in diesem Heft, „die dem Ich misstraute“. „Nicht die Sorge um das Ich war gefragt, sondern die Ichlosigkeit“. „Wir haben uns dann langsam“, so Steffensky am Schluss, „von den glückfeindlichen Diktaten entfernt“ und lernten „Ich“ zu sagen.

Vielleicht müssen wir uns heute von dem Diktat der Nabelschau entfernen, aufhören, Likes und Follower zu sammlen, die Kinder nicht mehr fragen, „Was hast du gemacht?“ sondern „Mit wem hast du heute gespielt“ und so dem „Wir“ wieder einen angemessenen Stellenwert einräumen.
Natürlich hat Opaschowski Recht, dass die Zeit der Ichlinge zu Ende gehen sollte und bei all den Problemen und Krisen die Egoisten und Narzissten sich eigentlich „vom Acker“ machen könnten. Aber das Ich gehört nun mal zum Markenkern westlicher Ideologie und da kostet es schon noch etwas Überzeugungskraft und Anstrengung um dieses Ziel zu erreichen.

„Wer bin ich“ ist ja wohl eine der spannendsten Fragen überhaupt. Lutz Drescher lenkt mit seinem Artikel den Blick auf andere Kulturen und Religionen. Wie gehen die mit der Suche nach dem eigenen Ich um? Welche Rolle spielt da das Selbstbild und die Gemeinschaft?

Und Narziss? Den hätte wohl auch keine Selfiestange gerettet, der war so auf sich fixiert und hätte nur Likes gesammelt, wenn die griechischen Götter schon bei Facebook gewesen wären.

......

Weiterlesen im Heft 3/16