Wolfgang Noack: Was kommt da auf uns zu?

Was kommt da auf uns zu? Das fragten sich vermutlich auch die Menschen, die zur Zeit der Reformation erlebten, wie die Macht der (katholischen) Kirche ins Wanken geriet, wie der Buchdruck auch andere Meinungen und Ansichten verbreitete und wie sich in die Aufbruchstimmung Widerstand und Gewalt mischte.
Oder als 1789 das französische Volk auf die Barrikaden ging und gegen die absolute Herrschaft von König Ludwig XVI. protestierte. Was kommt da auf uns zu, fragten sich wohl die Menschen, wenn eine Revolution die geordnete Welt mit oben und unten in ganz Europa verändern wird?
Viele kleine und große Veränderungen haben im Laufe der Geschichte enormen Einfluss auf das Leben der Menschen genommen: Die Industrialisierung, in deren Folge ab Mitte des 18. Jahrhunderts Erwachsene und Kinder sich in Fabriken verdingen müssen, der Chauvinismus der Nationalstaaten, der in den Ersten Weltkrieg führt, die Begeisterung für den Faschismus, der ganz Europa in Schutt und Asche legt und die ganze Welt verändert.
Erfindungen verändern die Mobilität, die Kommunikation, den Wohlstand der Menschen, wenn auch höchst unterschiedlich. Die Globalisierung, die Finanzwirtschaft, bei der plötzlich mit Geld  Geld verdient werden konnte, die Ölkrise, der Klimawandel, die Katastrophen von Tschernobyl und Fukushima erschüttern Gewissheiten und zwingen zu Veränderungen im Denken.

Nun war weder die Reformation noch die Französische Revolution oder auch andere weitreichende Veränderungen Ergebnis einer breiten Debatte in der Bevölkerung. Sie kamen einfach über die Menschen, lösten vielfach Ängste aus, manchmal auch Begeisterungen. Geschichte wurde gemacht, von denen da oben oder von einer kleinen, besonders mutigen Gruppe.

Im Gegensatz zu absolutistischen und feudalistischen Staatsformen leben wir zumindest  in Deutschland und Europa heute in offenen Demokratien mit einer (mehr oder weniger) starken Zivilgesellschaft. Und diese Zivilgesellschaft hat sich immer wieder eingemischt. Die Studenten der 60er Jahre öffneten eine verkrustete Gesellschaft, die nicht bereit war sich den Gräueltaten des Nationalsozialismus radikal zu stellen, Proteste verhinderten eine atomare Bewaffnung der Bundeswehr, die Aussöhnung mit Israel und Polen geschah auf Initiative der Kirchen und Jugendverbände, ökologisches Denken ging von „grünen Spinnern“ aus und findet sich heute in jedem Parteiprogramm wider. Als die Bauern von Wyhl 1975 gegen den Bau eines Atomkraftwerkes am Kaiserstuhl protestierten, konnten sie sich noch nicht vorstellen, dass der Deutsche Bundestag knapp dreißig Jahre später das Ende dieser Energiegewinnung beschließen wird. Friedensbewegung, Frauenbewegung, der Blick für die Eine Welt, alles Initiativen, die ihren Ausgang in der Zivilgesellschaft hatten und die Republik nachhaltig veränderten. Hans-Jürgen Benedict beschreibt in dem Beitrag „Erlebt, erlitten, protestiert“ seinen persönlichen Blick auf die Veränderungen.

Heute stehen wir vor neuen Herausforderungen

Welche Auswirkungen haben die Digitalisierung aller Lebensbereiche, die Sammelwut von persönlichen Daten, die veränderte Kommunikation mit Fake News, Social Bots und Reduzierung von Inhalten auf Twitter-Format? Wie lassen sich Menschen für das Friedensprojekt Europa (wieder) begeistern, wie kann verhindert werden, dass das Gespenst des Nationalismus wieder aus der Gruft steigt und wie wird die Demokratie zu einem Herzensanliegen der Menschen, bei dem es nicht um Partikularinteressen geht, sondern um das gemeinsame Ganze? Welchen Weg müssen die reichen Industriestaaten einschlagen, wenn es darum geht, einen gerechten Ausgleich mit den armen Regionen dieser Erde zu schaffen, damit Menschen nicht zur Flucht gezwungen werden? Mit welchen Folgen wird die künstliche Intelligenz in Entscheidungen eingreifen und was bedeutet es, wenn in der Medizin zukünftig Menschen und Maschinen gemeinsam handeln? (s. Beitrag von Galia Assadi und Arne Manzeschke: „Die Kontrolle über die autonomen Maschinen wird massiv eingeschränkt“)

Zehn Zukunftsthemen werden in diesem Heft diskutiert (ab Seite 22). Welche Veränderungen werden in naher Zukunft in den Bereichen Weltwirtschaft, Demokratie, künstliche Intelligenz, Digitalisierung, weltweite Wanderungsbewegungen, Europa, Mobilität, Medizin, Kommunikation und Gemeinwohlökonomie zu erwarten sein? Welche Konsequenzen werden die Entwicklungen insbesondere für Jugendliche haben und - das ist das Wichtigste: Welche Debatten sind hierzu notwendig. Diese Debatten müssen in der Zivilgesellschaft geführt werden, Kirche und Jugendarbeit sind ein Teil davon.

Zu Beginn des Heftes nimmt Heiner Keupp die Ängste der Menschen unter einem Veränderungsdruck in den Blick (Angst vor der Freiheit? Leben in der „Metamorphose der Welt),
Kathrin Winkler beschreibt die Veränderungen als Kraftquelle für menschliche Entwicklungen („Nichts ist so beständig wie der Wandel“) und Ulrich H.J. Körtner setzt sich mit der Allmacht Gottes und der Veränderung der Welt auseinander.

Wer sich einmischt, sieht sich oft mit dem TINA-Prinzip („There is no alternative“) konfrontiert. Warum? Weil bestimmte Interessen dahinter stehen, weil es sehr aufwendig wäre, einen anderen Weg zu wählen, weil Gefahren verharmlost werden. Bei den Zukunftsthemen brauchen wir aber eine breite Debatte mit vielen kritischen Fragen.

......

Weiterlesen im Heft 1/17